Historisches Übersee-Archiv

© Rui Sérgio Afonso 2021

Historisches Übersee-Archiv

Wie lässt sich ein kolonialgeschichtliches Archiv neu erfinden?

Filipa Lowndes Vicente
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1931 zu Beginn des „Estado Novo“ wurde neben anderen Institutionen und Einrichtungen des portugiesischen Kolonialprojekts auch das kolonialhistorische Archiv (Arquivo Histórico Colonial) geschaffen. Sein Ziel war die Erhaltung, Bewertung und Bereitstellung von Dokumentationen zum portugiesischen Kolonialimperium. Eine Funktion, die es bis heute erfüllt. Wie kann ein kolonialhistorisches Archiv sich in postkolonialer Zeit und Hinsicht erneuern?

Worte sind relevant: aus „kolonial“ wird „Übersee“

1931 für die Aufnahme sämtlicher Dokumente der portugiesischen Kolonialerfahrung gegründet, erhielt das Archiv die Bezeichnung „kolonialhistorisch“. Neunzig Jahre später, 2021, heißt es „Arquivo Histórico Ultramarino“ (Historisches Übersee-Archiv; abgekürzt: AHU). Die Namensänderung erfolgte 1951 im Zuge einer ideologischen Neuausrichtung des Kolonialstatuts, als für unzählige weitere Institutionen und in Dokumenten der Begriff colonial durch ultramarino (in Übersee) ersetzt wurde. Das anfangs für das materielle und dokumentarische Gedächtnis vergangener, aktueller und zukünftiger Geschichte des portugiesischen Imperiums gedachte Archiv ist heute ein Raum mit 16 Kilometern Text- und Bilddokumentation. Dokumentiert wird das Verhältnis der Portugiesen zu anderen Völkern vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1974/75, also von den ersten organisierten Seefahrten und territorialen Besetzungen der Portugiesen außerhalb Europas bis zur Nelkenrevolution am 25. April 1974, darunter auch die vier Jahrzehnte „Estado Novo“ unter Salazar und Marcello Caetano bis 1975 dann nach langen Befreiungskriegen der portugiesisch beherrschten Territorien auch das portugiesische „Weltreich“ endete.

Wieso wurde das Archiv damals vom „kolonialen“ zum „überseeischen“? Und wieso führte das Ende des Imperiums nicht zu einer erneuten Änderung der Bezeichnung? Das heute verwendete Wort für die Ausrichtung des Archivs ist „Beziehung“ – von Portugiesen zu Völkern, mit denen sie sich ins Verhältnis setzten. Welche anderen Begriffe wären aus heutiger, „Post-“Perspektive für die Bezeichnung eines solchen „Kolonial-“ oder „Übersee-“ Archivs geeignet? Das Historische Übersee-Archiv liegt an einer netten Straße in Lissabon, der Calçada da Boa-Hora, doch „boa-hora“ (guter Zeitpunkt) wäre für diese „Beziehung“ nicht unbedingt treffend. Worte sind relevant. Die genaue Betrachtung jedes einzelnen Begriffs, mit dem sich diese Institution bezeichnet, hilft uns beim Verständnis ihrer Geschichte.

  

„Archiv“: Seit vor ungefähr 20 Jahren Ann Laura StolerAchille Mbembe und etliche andere uns dazu aufforderten, das koloniale Archiv als „Subjekt“ zu begreifen und nicht nur als „Quelle“, wurde es Thema und ein zentrales Problem postkolonialer Studien. 

Michel Foucault sah das Archiv als einen Ort von Macht und Wissens und Jacques Derrida bezeichnete es als „Fieber“ und „Begehren“ im psychoanalytischen Sinne, ein aus unendlichen Erinnerungsschichten bestehendes wissenschaftliches Projekt. Die darauffolgende Generation von Archivar*innen und Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fakultäten betrachtete es dagegen bereits als Objekt und Ort für die Produktion von Erkenntnis und nicht mehr nur deren Verwahrung. Derrida beharrte zudem auf der Etymologie des Begriffs „Archiv“: „archē“, Griechisch für Anfang, Ursprung der Dinge, Genesis.

Das 1931 eingerichtete „Arquivo Histórico Colonial“ übernahm den Bestand einer anderen, 1883 geschaffenen Institution, der Kartografiekommission „Comissão de Cartografia“. 

Die Wissenschaft der Kartierung, gezeichnete Landkarten, waren entscheidend für die Konsolidierung der Besetzung afrikanischer Territorien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Der imperialistische Impetus Europas jener Zeit machte aus der Karte des afrikanischen Kontinents ein politisches und diplomatisches Spielzeug aus Strichen, Linien und Grenzen. Im Zuge der angespannten und konfliktreichen Verhandlungen zwischen unterschiedlichen europäischen Nationen mit afrikanischen Ambitionen, war die Kartografie die legitimierende Wissenschaft, die beweisen sollte, wer dort schon präsent war, wer berechtigt war, dort zu bleiben oder erst kürzlich dabei war, aber die Mittel besaß, auf seine Präsenz zu bestehen. In den kartierten Bereichen geschahen die Expeditionen (und auch die Verhandlungen), mit Landmarken, Waffen, Fotoapparaten, Messgeräten und Linien auf dem Papier – die Karten wurden von der Kartografiekommission aufbewahrt oder selbst hergestellt und später ins kolonialhistorische Archiv transferiert. Die Sammlung handgezeichneter oder gedruckter Karten aller von Portugal kolonisierten Räume – Angola, Kap Verde, Mosambik, S. Tomé und Príncipe, Brasilien, Timor, Macau, Indien – ist heute eine der Dimensionen dieses Archivs.

Doch die Karten waren nicht alles, und so ersetzte die Bezeichnung „historisch“ das Spezifikum der „Kartografie“. 1931 strukturierten drei klassifizierende Hauptmerkmale die gigantische Masse an Dokumenten, die in das Archiv eingegliedert wurden. Zum einen die Chronologie einer im 16. Jahrhundert einsetzenden Zeitachse, zum anderen den Raum und die im Vergleich zur Zeitachse eher unstete imperiale portugiesische Geografie. Drittens schließlich das thematische Kriterium, in dem sich die Struktur des Kolonialstaats spiegelt und in dem nun in Gestalt des Archivs die Bezeichnungen der Organe weiterleben, die diese Dokumentation zu ihren „Lebzeiten“ schufen, als deren „Tempel“ und „Friedhof“ zugleich, wie Achille Mbembe es nennt.

Lesesaal, Arquivo Histórico Ultramarino 2021. Foto: © Rui Sérgio Afonso

Dokumente sind nach dieser Betrachtung „Fragmente von Leben und Stücke von Zeit“, welche die „Alchemie“ des Archivs in „Kohärenz“, „Totalität“, „Kontinuität“ und „Einheit“ verwandelt. Hinzu kommt die symbolische Kraft, der gesamten Nation zu gehören – die Archive sind öffentlich und theoretisch für jede Person zugänglich. Doch wenn Archive die Autorität eines Staats in sich tragen – da anzunehmen ist, dass kein Staat ohne Archiv existiert – sind sie auch seine Achillesferse. Das Archiv kann Bedrohung sein, Kritik, Beweis, Unterwanderung und Anklage (nicht zufällig zensieren, zerstören oder verschließen so viele Staaten und Institutionen ihre Archive, wie abermals Mbembe feststellt.) Wären dann die zu Postkolonialzeiten bestehenden Kolonialarchive nicht ebenso die Achillesfersen des Kolonialismus? Schließlich bewahren sie – und sei es nur zwischen den Zeilen, im Schweigen und in den Leerstellen – genau das, was sich gegen sie wenden kann. Es muss nur in Anspruch genommen werden, und, wie Stoler in ihrer von Walter Benjamin inspirierten Arbeit über Kolonialarchive anregt, against the grain (gegen den Strich).

Und schließlich „kolonial“. Das Schlagwort des Jahres 1931 – ein Jahr zuvor war mit dem „Ato Colonial“ der Kolonialakt erlassen worden, jenes Gesetz, das ein „Vorher“ und ein „Nachher“ der portugiesischen imperialen Identität markiert –, wurde zwanzig Jahre später, 1951, neu bewertet und umbenannt. Der Begriff „kolonial“ war zu problematisch geworden in der Welt nach dem Weltkrieg, als Dekolonisierung für viele neue Nationen bereits Realität war. Die Kolonien wurden zu „Überseeprovinzen“ umfirmiert. „Übersee“ (Ultra-mar), jenseits des Meeres, bezeichnete nun eine Geografie und nicht mehr ein ungleiches Herrschaftsmodell. Portugal wurde überseeisch. Und mit ihm das Geschichtsarchiv: „Arquivo Histórico Ultramarino".

Wenn Worte relevant sind, sind es Personen erst recht. Die Abfolge der Direktor*innen ist bezeichnend für die Veränderung des Berufsbildes: Der erste war Antonio Pires (1861–1938), bekannt als Pires Avelanoso. Er war als Archivbibliothekar für die Dokumentation des Kolonialministeriums verantwortlich, als ihm die Sociedade de Geografia den Vorsitz der Vorbereitungskommission des kolonialhistorischen Archivs übertrug. Anschließend wurde er sein erster Interimsdirektor. Ihm folgte bis 1946 Manuel Múrias, ein Mann mit besonderem Profil – Politiker und regimetreuer Intellektueller, also keine Fachkraft mehr. Zwischen 1946 und 1975 übernahm noch einmal ein Mann vom Fach die Leitung. Alberto Iria entwickelte das Archiv bis zum Ende der historischen Zeitspanne, die seine Existenz begründete. Auf ihn folgte bis 1988 Isaú Santos mit einem besonderen Interesse für Macau, und nach ihm wurde das Archiv mit Ausnahme der Jahre 2003 bis 2005 unter Miguel Infante, von zwei Frauen geführt: 1989 bis 2003 Maria Luísa Abrantes, seit 2005 Ana Canas, die derzeitige Direktorin. Beide stehen für eine zunehmende Feminisierung des archivarischen Berufs seit Mitte des 20. Jahrhunderts, die sich aber erst jüngst auch in der Besetzung von Leitungspositionen durch Frauen ausgedrückt hat.

Zeiten: Dokumentarische Chronologie, Archivchronologien 

Zeit und Raum. Beginnen wir mit der Zeit des „Arquivo Histórico Ultramarino“. Die Chronologie der schriftlichen Dokumente ist ebenso lang wie die der kartografischen; fünf Jahrhunderte Papier, beschrieben oder mit Zeichnungen. Fotografie ist im Archiv ein modernes Objekt, Technologie des 19. Jahrhunderts, dessen Identität gerade einmal ein Jahrhundert geprägt hat, von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1975. Doch das „Arquivo Histórico Ultramarino“ als Ort, Institution und Kategorie entstand erst 1931. Der Kolonialakt (Ato Colonial) von 1930, das erste Verfassungsdokument des Estado Novo , war eine juristische und administrative Revolution und machte das Weltreich zu einem zentralisierten, geplanten Projekt, das es vorher nicht gewesen war: Das portugiesische Imperium.

Der Staat schuf Strukturen, Personen, Institutionen, Gesetze und Namen zur Konsolidierung seiner kolonialen Identität und fing an, der Postulierung derselben auch innerhalb und jenseits seiner Grenzen Bedeutung zu schenken. Propaganda war nun eine Priorität. Eine andere war, Räume zu schaffen, in denen Dokumente, Proben, Produkte, Objekte, Karten, Fotografien, Bücher eingesehen und gelesen, von Fachleuten und Wissenschaftler*innen studiert oder von dem zumeist analphabetischen Publikum bestaunt werden konnten. Ausstellungen, Museen, Bibliotheken, Archive, Orte des Wissens und der Unterhaltung, an denen das koloniale Portugal nun buchstäblich und im metaphorischen Sinn von „allen“ zu eigen gemacht werden konnte.

Natürlich bestand schon seit Jahrzehnten eine Genealogie von Initiativen im Geiste der „kolonialen Anstrengung“ – die Gründung der Sociedade de Geografia 1875; die zahlreichen Kartierungs- und Forschungsexpeditionen auf afrikanischem Territorium, denen militärische Kampagnen vorangingen oder begleiteten mit dem Ziel, die lokale Bevölkerung jeweils der portugiesischen Herrschaft zu unterwerfen; oder die Investition in die Errichtung von Städten und staatlichen Bauten in den afrikanischen Kolonien und die massive Ausbeutung jeglicher Arbeitskraft der kolonisierten Bevölkerungen. Doch erst 1930 begann eine weitere Phase. Mehr als einhundert Jahre nach dem „Verlust“ von Brasilien und angesichts eines ebenso geschrumpften wie vergessenen Indiens wurde Afrika nun zum Synonym für das Weltreich.

Nach der Kartierung, Erschließung und Aufteilung unter anderen europäischen Nationen musste nun konsolidiert und entwickelt werden. Und geforscht. 1926 stürzte eine Militärdiktatur Portugals erste Republik. Europa war aus dem vernichtenden Weltkrieg auferstanden und bewegte sich noch unwissentlich bereits auf den zweiten zu. Die afrikanischen und asiatischen Kolonien waren in europäischen Städten so sichtbar wie nie zuvor. Etwa in Kolonialausstellungen wie der von Paris 1931, der aufsehenerregendsten, die Portugal kurz darauf 1934 mit seiner „Exposição Colonial“ in Porto reproduzierte, aber auch in einer im weiteren Sinne visuellen Kultur illustrierter Zeitschriften, Postkarten, Fotografien, Büchern und Faltblättern in denen die Kolonien in Bildern Gestalt annahmen.

Zugleich kam es an unterschiedlichen Stellen der Welt zu antikolonialen Bewegungen, Worten und Bildern. Im März 1930 setzte Gandhi seinen Salzmarsch, die Satyagraha, in Gang als Protest gegen das Verbot der Salzgewinnung in der britischen Kolonie Indien. In einer asiatischen Kolonie, der größten und symbolträchtigsten von allen, war dieser Akt des friedlichen Aufbegehrens eine Vorahnung dessen, was 17 Jahre danach Wirklichkeit werden sollte, als Indien aufhörte, britisch zu sein. In Lissabon, Luanda oder Maputo markierte dies wie in vielen anderen Städten der Metropolen und in den Kolonien den Beginn von drei äußerst aktiven Jahrzehnten physischer wie institutioneller Errichtung von Orten kolonialer Forschung und Erkenntnis; in Indien jedoch wurde am sichtbarsten, was überall schon, wenn auch noch verhalten und schüchtern, im Gange war: Widerstand, friedlich oder bewaffnet, gegen Systeme der Unterdrückung und Ausbeutung derer, die als „Kolonie“, „Weltreich“ oder „Übersee“ betrachtet wurden. Wie sind diese Formen des Widerstands – Gandhis Schweigemärsche - in den Kolonialarchiven präsent? Fragen wie diese haben dazu beigetragen, die Archive zu dekolonisieren. Doch reicht diese Dekolonisierung aus, um im Archiv selbst dessen eigene Subversion zu entdecken?


Brasilien Archiv, Arquivo Histórico Ultramarino 2021. Foto: © Rui Sérgio Afonso

Brasilien Archiv, Arquivo Histórico Ultramarino 2021. Foto: © Rui Sérgio Afonso

Orte im Archiv und des Archivs

„Portugal ist kein kleines Land“. Von der Kolonialausstellung 1934 in Porto aus wurde dieser Satz früher so oft von Vertretern der Diktatur des Estado Novo wiederholt wie von heutigen Forschern, die diese Vergangenheit schon unter Vorzeichen – und mit der Ironie – des postkolonialen Denkens betrachten. Das „große“ Land, wie man es sich in den 1930er-Jahren erdachte, durchdringt die Geografien/Kategorien des „Arquivo Histórico Ultramarino“ als ein Geflecht von konstanten Begegnungen. Mosambik, Brasilien, Angola, Timor, Goa, Macau, S. Tomé und Príncipe, Diu, Kap Verde, Guinea. Einige Schenkungen verweisen auch auf spezifische Geografien – der Fundus Francisco Mantero zum Beispiel mit seiner Dokumentation der Jahre 1874 bis 1978 enthält private Familienpapiere wie die ihrer vielfältigen Geschäftstätigkeit, vor allem in São Tomé und Príncipe, Verästelungen auf einer Landkarte, die auch eine Kartografie von erzwungener, körperlicher, rassifizierter Arbeit darstellen, die sich auf kolonialen Gebieten über das gesamte 20. Jahrhundert erstreckte. Nur ein Beispiel von vielen und dafür, wie sich Privates und Öffentliches, Individuelles und der Staat, Persönliches und Politisches unendlich verschränken, in diesem wie in allen anderen Archiven.

„Portugal não é um país pequeno” (Portugal ist kein kleines Land”), Karte im Rahmen der Kolonialausstellung von 1934, org. Henrique Galvão). Herausgabe auf Initiative des Gemeinderats von Penafiel; Druck durch die Nationale Litographie - Porto". Es handelt sich um eine von mehreren Zeichnungen, die dieselbe Idee aufgreifen – überlappende Ränder – und in verschiedenen Formaten reproduziert wurden, vor allem auf illustrierten Postkarten und in verschiedenen Sprachen: Französisch und Englisch, aber auch Portugiesisch.

Und der Ort des Archivs? Außer einer Sammlung von fast immer schriftlichen, manchmal aber auch bildlichen Dokumenten, sind Archive auch Bauten, Institutionen und Einrichtungen des Staates, der sie schuf. Diese architektonische und dreidimensionale Dimension ist wichtig bei der Betrachtung des „Arquivo Histórico Ultramarino“. An erster Stelle betrachten wir das Gebäude des Archivs, an zweiter den Ort, an dem es sich in der Stadt befindet: Belém und Junqueira, im Dialog mit verschiedenen anderen Institutionen, Monumenten und kolonialen Bezügen am selben Ort.

Lagerraum 12, wo sich die bedeutendste Dokumentation des 20. Jh. befindet 1979. Foto: © Instituto de Investigação Científica Tropical, Lissabon, Portugal

Manuskripte, Karten, Fotografien: die bewegliche Dringlichkeit des Imperiums

Im Lauf vieler Jahrzehnte vor und nach 1975, dem Jahr der Unabhängigkeit der Kolonien, gab es verschiedene Projekte der Katalogisierung der Bestände mit dem Versuch, der unermesslichen Menge an Zeit und Raum in Gestalt von Dokumenten eine sinnvolle Ordnung zu geben. Kataloge, Verzeichnisse, Inventarien – work in progress, denn Menschen und Ressourcen sind immer knapp – ließen nach den Kriterien der Klassifizierung Kodizes, Einzelstücke, Schachteln, Bündel, Rollen, Mikrofilme, Fotoalben, Postkarten und Fotografien zu Dokumenten werden. Die Objekte, die in der Sprache des Archivs bereits einen Namen besitzen, erhalten Schlagworte, Kategorien und „Kontingente“, um zu leicht identifizierbaren „Dokumenten“ zu werden. Sie sind die Landkarten, die eine Rückkehr ermöglichen, ohne sich zu verlaufen.

Die koloniale Nomenklatur des Archivs wirkt in der Gegenwart weiter. Die Struktur des Staates gepaart mit dem Namen der jeweiligen kolonialen Gebiete: der „Überseerat“ für „Angola“, „Brasilien“, „Timor“, ein wichtiger Fundus des „Arquivo Histórico Ultramarino“, ist Vorläufer anderer staatlicher Strukturen, wie dem Staatssekretariat für Marine und Überseegebiete oder dem Kolonialministerium - ein vielfach verzweigter Stammbaum behördlicher Macht von der Generaldirektion für Wirtschaft über die für Gesundheit und Fürsorge bis zur für öffentliche Bauten zuständigen. Und in den kolonialen Gebieten entstanden weitere nach dem Vorbild derer in der Metropole. 1955 zum Beispiel entstanden die Institute für wissenschaftliche Forschung von Angola und Mosambik. Das Archiv des Kolonialstaats in all seinen Zeiten und Räumen, seiner Diachronie und Synchronie.

Neben der schriftlichen und kartografischen Dokumentation interessiert uns vor allem die fotografische, das Format, das aus unterschiedlichen Gründen und auch aufgrund seiner Modernität stets eine untergeordnete Stellung in der Hierarchie der historischen Dokumentation diese wie vieler anderer Archive auch einnimmt. Über Jahrzehnte war die Fotografie nur ein armer Verwandter der Dokumente in portugiesischen Archiven, die ja vor allem von Historiker*innen aufgesucht wurden, deren Hacke und Acker die Schriftlichkeit ist und für die Bilder im besten Fall Illustration für das Wort sind. 

So erklärt sich, dass dieses riesige Meer an Fotografien in diesen wie auch in anderen portugiesischen Archiven kolonialen Ursprungs erst seit sehr kurzer Zeit systematisch behandelt wurde. Ganz im Gegensatz zu anderen ehemals kolonialen Ländern, geschah diese „fotografische Wende“ in Portugal erst kürzlich.

Zwei rühmliche Ausnahmen gehen von zwei Ausländerinnen und Nicht-Historikerinnen aus, die sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit portugiesischen Themen befassten: „In pursuit of a chamaleon: Early ethnographic photography from Angola in context” der österreichischen Ethnografin Beatrix Heinze (1939) und „Photographic Sources for the History of Portuguese Speaking Africa, 1870-1914” der in Portugal lebenden und mit einem Portugiesen verheiratete englische Anthropologin Jill Dias (1944-2008). 

Ein bedeutender Teil der Fotografien unter der Obhut des AHU (und seit 2015 von der Universität von Lissabon verwaltet) stammt aus einer weiteren Institution mit kolonialgeschichtlichem Hintergrund, dem Institut für Tropenforschung „Instituto de Investigação Científica Tropical“, zuvor „Junta de Investigações Científicas do Ultramar“ (Wissenschaftliches Forschungsanstalt für Übersee; das Attribut „wissenschaftlich“ wurde erst 1973 hinzugefügt), genealogisch verbunden mit dem AHU insofern, als es ebenfalls aus der „Commissão de Cartografia“ hervorging. 

Als das AHU bereits Archiv war, war die heute als „Institut“ firmierende „Junta“ noch ein Labor für die Gegenwart und die Zukunft, wo Wissenschaft produziert, Politik gemacht und die Entscheidungen getroffen wurden, die erst späterhin Material für das Archiv werden sollten. Einige der fotografischen Bestände sind klassifiziert, wurden restauriert und digitalisiert (auf der Plattform Arquivo Científico Tropical – Repositório Digital) andere, zahlreiche, sind noch zu erfassen. 

Wie alle öffentlichen Archive in Portugal hat auch das „Arquivo Histórico Ultramarino“ mit mangelnder Finanzierung zu kämpfen. Es fehlt an Personen und Mitteln, und noch viele fotografische Bestände warten auf ihre „Ordnung, Katalogisierung, Konservierung und Restaurierung”, die vier Dimensionen der Archivierung fotografischer Sammlungen.


Restaurationskabinett 1979. Foto: © Instituto de Investigação Científica Tropical

Vom Materiellen zum Digitalen; von der Ex-Metropole zu den Ex-Kolonien

2021 spielt sich das „Arquivo Histórico Ultramarino“ wie viele andere Archive weltweit, auf zwei unterschiedlichen Ebenen ab, die sich ebenso überlagern wie sie sich untereinander in einem Spannungsverhältnis befinden können – der physische Raum und der virtuelle. In Lissabon ist das Archiv momentan nur am Nachmittag für das Publikum zugänglich, montags bis freitags von 13:15 Uhr bis 18:15 Uhr, doch seine Website ist 24 Stunden am Tag und von überall in der Welt aus einzusehen. Allerdings und aufgrund dessen, dass nur ein winziger Teil seiner 16 km Dokumentation digitalisiert sind, bleibt die sensorische und körperliche Erfahrung die vorrangige – Sehen und Lesen, doch auch das Berühren der Dokumente mit ihren Jahrhunderten Leben und Riechen (den Geruch der Zeit auf Papier), nur Handschuhe und die Langsamkeit der Bewegungen stehen dem direkten Kontakt entgegen, der „Einsicht“, wie es in der archivarischen Sprache heißt.

Man verliert und gewinnt etwas bei diesem Übergang von direkter und alle fünf Sinne beanspruchenden Drei- hin zur Zweidimensionalität, die ein Lesen und Sehen ohne Berührung gestattet. Die Materialität geht verloren, die viel über ein Dokument verrät, doch gewonnen wird beispielsweise an Zugänglichkeit und an Möglichkeiten des Teilens, was den Kern eines in der Metropole errichteten Kolonialarchivs untergräbt. Die unbequeme und berechtigte Frage, die sich in letzter Zeit stellt – Wie umgehen mit der gigantischen kolonialen Hinterlassenschaft der Vergangenheit in früheren kolonialen Metropolen? – kann teilweise mit der Investition in digitale Archive beantwortet werden. Vor allem im Umgang mit zweidimensionalen Dokumenten, beschriebenem Papier, Fotografie, gedruckten oder gezeichneten Karten. Doch es wirft auch neue, ethische, Probleme auf – welche Folgen und Probleme ergeben sich aus der massenhaften und unkritischen Verfügbarkeit von Bildern, die in Zusammenhängen der Ungleichheit entstanden sind und in denen die Dargestellten, sofern es sich um „Kolonisierte“ handelt, fast immer weder Name noch Identität haben und nicht an den Prozessen der Reproduktion und Verbreitung ihres eigenen Bildes beteiligt waren?

Arbeits- und Lagerraum 1979. Foto: © Instituto de Investigação Científica Tropical

Lesesaal 1979. Foto: © Instituto de Investigação Científica Tropical

Lange vor der jüngsten Politisierung in Bezug auf die Geschichte und die Bedeutung so vieler kolonialer Archive der Gegenwart gab es bereits Projekte der „Rückgabe“ von Dokumenten, wenn meist auch beschränkt auf die Möglichkeit der „Reproduktion“. Das Projekt „Resgate“ (der „Documentação Histórica Barão do Rio Branco“) wurde 1995 gemeinsam von den Regierungen Portugals und Brasiliens mit dem Ziel ins Leben gerufen, historische Dokumente zur Geschichte Brasiliens außerhalb von Brasilien, vor allem in Portugal, zu identifizieren, zu reproduzieren und zugänglich zu machen. Das Teilen von Dokumentation in Zusammenarbeit mit Ländern, die einst Teil der überseeischen Geografie waren, war entscheidend für eine kritische Neuausrichtung der Geschichte. Doch die große Mehrzahl der Archive, Museen und anderer eher hybrider Institutionen (Geografiegesellschaft, Militärhistorisches Archiv) hat sich noch nicht tiefergehend mit Prozessen der Dekolonisierung befasst. In Portugal macht sich die chronische und zermürbende Unterfinanzierung dieser Institutionen auf materieller wie immaterieller Ebene bemerkbar. Dabei geht es nicht nur um Klassifizieren, Restaurieren, Ordnen und Digitalisieren, sondern auch um ein kritisches Nachdenken über das gigantische koloniale Erbe. Und dieses bedingt Nachdenken, das eher erkenntnistheoretisch als technisch ist, eher politisch als praktisch.

Und es stellen sich weitere Fragen. Was bedeutete es, wenn von einem neuen Museum der Entdeckungen in Lissabon gesprochen wird, wo doch die Stadt bereits voll ist von Räumen, Dokumenten, Bildern und Objekten dieser „Entdeckungen“, die dringend finanzieller Zuwendung und einer notwendigen kritischen, ontologischen Reflexion bedürfen? Zahlreiche Forschende (aber auch Künstler*innen und Regisseur*innen) aus unterschiedlichen geografischen Gefilden und Disziplinen greifen auf portugiesische Kolonialarchive zurück, um die fernere und jüngere Geschichte der „Beziehungen“ zwischen Portugal und ehemals kolonisierten, imperialen oder überseeischen Weltgegenden neu zu bewerten. Nun kommt es darauf an, dass dieser selbstreflexive Prozess auch von den Institutionen selbst unternommen wird. 
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