Statue des Padre António Vieira

© Rui Sérgio Afonso

Statue des Padre António Vieira

Dissonanzen im Kanon

Miriam Thaler
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Wer Lissabon besucht, kann sich den Monumenten und Denkmälern, die an die Seefahrt und das vergangene Imperium erinnern, kaum entziehen. Doch in Portugal werden vermehrt Stimmen laut, die einen kritischen Umgang mit der kolonialen Vergangenheit fordern und deren kanonische Darstellung hinterfragen. Die Debatte um die Padre António Vieira gewidmete Statue in Lissabons Stadtzentrum ist ein Beispiel dafür.

Die weltweite Black-Lives-Matter-Protestbewegung, die den systemischen Charakter des Rassismus in der Gegenwart anprangert, erreichte im Sommer 2020 auch Portugal. Wenige Tage nach den größten Demonstrationen wurde im Lissabonner Stadtzentrum die Statue von Padre António Vieira, einem Jesuitenpriester und Missionar aus dem 17. Jahrhundert, mit roter Farbe und dem Schriftzug „DESCOLONIZA“ („Dekolonisiere“) überzogen. Dies sorgte für heftige Reaktionen in sozialen Netzwerken und in den traditionellen Medien.

Mann des Wortes, Mann der Tat

1608 in Lissabon geboren, zog António Vieira mit seinen Eltern nach Brasilien, Bahia, wo er 1697 starb. Er wird bis heute als großer Prediger und Schriftsteller verehrt, der für die portugiesische Literatur prägend war. Fernando Pessoa, einer der bedeutendsten Autoren Portugals, bezeichnete ihn bewundernd als „Imperador da Língua“, also Imperator der Sprache. Nicht an wenigen Orten findet man nach dem Jesuiten benannte Schulen oder Straßen, immerhin zwei seiner unzähligen Predigten stehen auf dem Lehrplan in den höheren Klassen weiterführender Schulen  (Sermão de Santo António aos Peixes und Sermão da Sexagésima).

Doch Vieira war nicht nur ein Mann des Wortes, sondern mischte sich auch tatkräftig in die Politik ein. Er reiste als Diplomat des portugiesischen Königs und unterstütze das imperialistische Projekt des Landes, das mit seinem missionarischen Ziel der Verbreitung des christlichen Glaubens in Einklang stand. Allerdings wandte er sich auch häufig gegen kirchliche und koloniale Praktiken. Obwohl er nicht für die Abschaffung der Sklaverei an sich eintrat, versuchte er auf seinen Reisen zwischen Brasilien und Portugal, politische Maßnahmen auszuhandeln, die  die Versklavung der indigenen Bevölkerung einschränken sollten. In seinen Predigten sprach er sich gegen die Misshandlung von Sklav*innen aus, akzeptierte aber den transatlantischen Handel mit afrikanischen Sklav*innen, da er ihn als eine Möglichkeit ansah, indigene Arbeitskraft zu ersetzen. Ein eindrucksvolles Beispiel für seine oft wortgewandte Kritik ist folgender Auszug aus seiner Predigt vom „guten Räuber“ (1655), in der er über die portugiesischen Kolonialisten spricht und eine Grammatik des Stehlens entwickelt:

„Sie stehlen im Infinitiv, denn sie stehlen ad infinitum; denn, wenn sie weggehen, lassen sie die Wurzel für zukünftige Diebstähle zurück. Aber sie konjugieren dieses Verb auch in allen Personen: die erste Person, die sind sie selber; die zweite, das ist ihr Gesinde, und die dritte Person steht für alle, die für den Diebstahl Talent und Begabung haben. Sie stehlen ja auch in allen Zeiten: im Präsens, das ihre Zeit ist; da holen sie soviel [sic!] herein, wie in drei Jahren Kolonialdienst nur möglich ist. Aber auch das Praeteritum und das Futur beziehen sie in dieses Präsens ein: aus der Vergangenheit graben sie Verbrechen aus, verkaufen die erlassenen und vergessenen Schulden und lassen sich dafür nicht schlecht bezahlen. Und von der Zukunft beziehen sie auch schon Rendite und machen Verträge nicht nur über das, was bereits vom Baum gefallen ist, sondern was noch oben hängt und noch nicht in ihre Hände kam.“ [1]

António Vieira scheute den politischen Konflikt nicht und wurde deshalb beinahe aus dem Jesuitenorden ausgeschlossen. Sogar die Inquisition verurteilte ihn nach einem jahrelangen Prozess und stellte ihn ein halbes Jahr unter Arrest. Der Hauptgrund dafür war sein Einsatz für die sogenannten Cristãos Novos (wörtl. Neue Christen), also die zum Christentum bekehrten Juden, die oft unter dem Verdacht standen, heimlich ihren ursprünglichen jüdischen Glauben zu praktizieren. Argumente, die er gegen ihre Verfolgung hervorbrachte, waren zum Teil wirtschaftlicher Natur, da Investitionen jüdischer Kaufleute nützlich für die koloniale Expansion schienen. Er verteidigte sie aber auch auf theologischen Grundlagen: So betonte er zum Beispiel, dass viele der wichtigsten Heiligen der katholischen Kirche, Jesus eingeschlossen, jüdischen Glaubens waren. Vieira pflegte zudem selbst enge persönliche Kontakte zu Cristãos Novos in Brasilien und Europa.

„Um geboren zu werden, Portugal, um zu sterben, die Welt.“ Dieses Zitat Vieiras schmückt eine Fliesenwand im Stadtzentrum Lissabons. 
Foto: © GualdimG, Wikimedia Commons, Lizensiert unter: CC BY-SA 4.0

Erinnerung in Bronze gegossen

Die Statue Vieiras, die unter Kritik geriet, ist nicht vorrangig dem Schriftsteller und Prediger Viera, sondern Vieira als Mann der Tat gewidmet. Die überlebensgroße Bronzestatue soll an Vieira als Verteidiger der Rechte indigener Völker Brasiliens erinnern. Sie zeigt ihn in Mönchskutte, umgeben von drei kleinen, halbnackten indigenen Kindern. Vieira steht zwischen ihnen, die Hand auf der Schulter des Kindes zu seiner Rechten, und streckt mit entschlossenem Blick – wie zur Verteidigung gegen eine unsichtbare Bedrohung – ein Kruzifix in seiner Linken über die Köpfe der Kinder, die sich Schutz suchend an ihn drängen. In dieser Form erinnert die Statue beinahe unweigerlich an die Vorstellung einer europäischen Vormundschaftspflicht und Zivilisierungsmission gegenüber den Kolonialisierten – eine Idee, die sich ab Ende des 18. Jahrhunderts in Europa verbreitete und als Rechtfertigungsstrategie für die Ausbeutung der Kolonien verwendet wurde. Die Statue ist allerdings kein Relikt aus der späten Kolonialzeit. Aufgestellt wurde sie im Jahr 2017.

Ein  Idol– für wen?

Die katholische Sozialeinrichtung Santa Casa da Misericórdia de Lisboa ließ die Statue in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Lissabon errichten. Aufgestellt wurde sie auf dem Largo Trindade Coelho, vor den Gebäuden des Hauptsitzes der Einrichtung und der Barockkirche São Roque, in der António Vieira zu Lebzeiten gepredigt hatte.

Die Geschichte der Santa Casa reicht bis in das Jahr 1498 zurück, in dem Vasco da Gama Indien erreichte. Der aufblühende Seehandel hatte dazu geführt, dass immer mehr Menschen nach Lissabon zogen, die sich erhofften, am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben. Doch die Rechnung ging nicht für alle auf. So führte der Andrang auf die Hauptstadt auch zu großem Elend. In dieser Situation wurde die Santa Casa da Misericórdia gegründet, um die vielen Armen und Kranken zu unterstützen. Seither übernimmt sie Aufgaben im Sozial- und Gesundheitswesen. Vermutlich erkannte die Santa Casa also die eigene Mission in der Bildsprache der António Vieira Statue widergespiegelt - im Motiv des Kirchenmannes, der den Schwachen hilft.

Die Statue beschwor nicht erst im Jahr 2020 Gegenstimmen herauf, sondern wurde schon kurz nach ihrer Einweihung im Juni 2017 heftig kritisiert. Descolonizando, ein Aktivist*innen-Kollektiv, organisierte am 5. Oktober 2017, dem Tag der Ausrufung der Republik Portugal (1910), eine Protestaktion gegen die Statue. Diese wurde jedoch von einer unangemeldeten rechtsradikalen Gegendemonstration verhindert. Im Narrativ der Rechten ging es dabei darum, die portugiesische Kultur vor Verunglimpfung zu beschützen.

Für mediale Kontroversen sorgte aber vor allem das polemische Flugblatt, das Descolonizando zur Ankündigung seines Protestes veröffentlicht hatte, in dem es António Vieira als selektiven Unterstützer von Sklaverei bezeichnete. Ein Vorwurf, der sich darauf stützt, dass Vieira sich zwar gegen die Versklavung der indigenen Bevölkerung Brasiliens stellte, dafür aber die Versklavung von Afrikaner*innen in Kauf nahm, die die indigene Arbeitskraft ersetzen sollten. 

Descolonizandos Ankündigung ihrer Protestaktion sorgte für heftige Reaktionen von Befürwortern der Statue. © Descolonizando

Das Kollektiv stellte in einer späteren Stellungnahme klar, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, ein Urteil über eine historische Figur zu sprechen. Vielmehr wolle es sich für eine komplexere Darstellung Vieiras und für die Entglorifizierung der Kolonialzeit und der Missionierung einsetzen. Diese Kritik nahmen die Befürworter der Statue hingegen kaum auf. Sie verteidigten Vieira gegen eine aus ihrer Sicht unangemessene Verurteilung aus heutiger Warte. Nach Ansicht des Kollektivs erinnert die Statue zudem in ihrer heroisierenden und paternalistischen Ästhetik an Monumente aus der Zeit des Estado Novo, der Diktatur in Portugal, die erst 1974 gestürzt wurde. Das Regime hatte unter António de Oliveira Salazar „Deus, Pátria e Família“ (Gott, Vaterland und Familie) als Leitspruch ausgerufen. Und auch die Erinnerung an António Vieira war tief in die Staatsideologie eingebettet worden.

Als Missionar wurde er als Träger der portugiesischen Zivilisation gefeiert, der in christlicher Nächstenliebe zur Vereinigung der Völker und zum Wohlstand Brasiliens beigetragen habe. An diesem Bild der nicht rassistischen, sanften portugiesischen Expansion, die die Portugiesen angeblich von anderen brutalen Kolonialherren unterschied, arbeitete Salazar seit den 1950er Jahren mit großer Sorgfalt. Denn angesichts der fortschreitenden Dekolonisierung wurde es immer schwieriger, den Besitz von Kolonien weiterhin zu rechtfertigen. Salazar hätte die Statue vom tapferen Missionar, der hilflose indigene Kinder beschützt, also wohl auch gefallen. 

A arte que faz mal à vista I (Art and Hurt I), 2018. Ein Film Manifest, 19’, Video, Ton. Produziert von Pedro Neves Marques und Catarina de Sousa. Erstaufgeführt auf dem DocLisboa 2019. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers und der Galleria Umberto di Marino. Der Film wurde 2017 noch vor den ersten Protesten gedreht. © Pedro Neves Marques

Abschied von alten Heldenerzählungen?

Während die Debatte im Jahr 2017 relativ schnell abebbte, erfuhr die jüngste Besprühung mit Graffiti weitaus größere Aufmerksamkeit. Vermutlich da diese Aktion Vieira ungerechtfertigt gleichzusetzen schien mit so grausamen kolonialen Akteuren wie dem belgischen König Leopold II. oder dem britischen Sklavenhändler Edward Colston, deren Statuen in anderen Ländern im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste beschädigt worden waren.

Schnell waren Stimmen zu hören, die den Akt verurteilten, und – wie erwartbar – witterten rechtsextreme Akteur*innen auch diesmal die Bedrohung portugiesischer Kultur. Auch die Diskussion darum, wie António Vieiras Handeln im 17. Jahrhundert zu bewerten sei, lebte erneut auf. 

Einige der Meinungsartikel wie auch der Debatten in sozialen Medien ließen aber eine größere Bereitschaft als im Jahr 2017 erkennen, sich mit der Kritik an der Statue, ihrer Bildsprache und den Hintergründen und Motivationen für eine solche Beschädigung auseinanderzusetzen. Das jesuitische Kulturzentrum Brotéria, das sich in direkter Nachbarschaft zur António Vieira Statue befindet, kündigte an, eine Veranstaltung, die sich mit der Repräsentation von Vieira beschäftigt, in ihr Programm aufnehmen zu wollen. Einige der Meinungsartikel wie auch der Debatten in sozialen Medien ließen aber eine größere Bereitschaft als im Jahr 2017 erkennen, sich mit der Kritik an der Statue, ihrer Bildsprache und den Hintergründen und Motivationen für eine solche Beschädigung auseinanderzusetzen. Das jesuitische Kulturzentrum Brotéria, das sich in direkter Nachbarschaft zur António Vieira Statue befindet, kündigte an, eine Veranstaltung, die sich mit der Repräsentation von Vieira beschäftigt, in ihr Programm aufnehmen zu wollen. Padre Francisco Mota, der Direktor des Zentrums, findet zwar, dass Vieira viel Bewundernswertes geleistet habe, teilt aber die Ansicht, dass Vieira nicht wie ein Heiliger verehrt werden solle. In einem persönlichen Interview äußerte er sich deutlich zu der Statue: 

„Dies ist eine sehr schlechte Darstellung des Lebens Vieiras. Ihn dort stehen zu haben mit drei unterwürfigen indigenen Kindern neben ihm (…) So wie die Statue aussieht, ist sie ein Ausdruck von Estado Novo Ästhetik und macht keinen Sinn.“ 

Im Unterschied zu den jüngsten Ereignissen anderswo bekannte sich in Portugal allerdings niemand zu dem Graffiti und es stand auch in keinem direkten Zusammenhang mit den Black-Lives-Matter-Protestaktionen. Mamadou Ba, Leiter der antirassistischen NGO SOS Racismo, äußerte im Interview den Verdacht, das Graffiti sei möglicherweise eine gewollte Provokation von rechten Akteur*innen gewesen, die so versuchten, die Debatte über systemischen Rassismus und strukturelle Diskriminierung zu polarisieren und auf Fragen der Repräsentation einzuengen. Dass diese Strategie aufgehe, werde für ihn auch dadurch deutlich, dass rassistische Graffitis an Schulen und Flüchtlingsheimen, die am Tag nach der Beschädigung der Statue auftauchten, nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit erhielten. 

Trotzdem spielt es auch für ihn eine Rolle, wie Portugal sich an seine koloniale Vergangenheit erinnert. Er findet, dass Monumente errichtet werden sollten, die Portugals multiethnischer Gesellschaft und auch den Opfern des Kolonialismus gerecht werden, anstatt die immer selben Helden einer imperialen Vergangenheit zu feiern. Der Aktivist begrüßt auch deshalb die erfolgreiche Initiative der Vereinigung von Afro-Nachkommen Djass zum Bau einer Gedenkstätte für versklavte Menschen in Lissabon.
So polarisiert die Debatte um die Statue Padre António Vieiras auch sein mag, Menschen wie Mamadou Ba und Padre Francisco Mota haben zwar sicherlich nicht in Allem die gleiche Meinung, repräsentieren aber einen Teil der portugiesischen Gesellschaft, der  zunehmend bereit ist, sich  kritisch mit der Erinnerung an die koloniale Vergangenheit auseinanderzusetzen.

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Fußnoten

[1] dt. Übersetzung von Hugo Loetscher, 1994, S. 51f.

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Bibliografie

Alden, Dauril. 2003. „Some Reflections on Antonio Vieira: Seventeenth-Century Troubleshooter and Troublemaker.“ Luso-Brazilian Review 40 (1): 7–16.

Nowinsky, Anita. 1992. „Padre Antonio Vieira, the Inquisition, and the Jews.“ Jewish History 6 (1-2).

Vieira, António und Hugo Loetscher. 1994. Die Predigt des heiligen Antonius an die Fische - António Vieira. Porträt eines Gewissens. Zürich: Diogenes Verlag.

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