In deutschen Sammlungen befinden sich bis heute tausende Körperteile aus kolonialen Kontexten – einige davon auch im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Repatriierung dieser Ancestral Human Remains nimmt eine besondere Stellung im Rahmen von Restitutions- und Reparationsforderungen ein. Doch bis heute fehlt eine verlässliche Bestandsliste. Häufig zieht sich der Rückgabeprozess geraubter menschlicher Gebeine in die Länge und schafft bisweilen neues Leid – eine schmerzhafte Geduldsprobe für die Nachkommen.
Eine Gruppe von Ovaherero aus Namibia und den USA kniet vor einem Podest im Raum der Stille des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Die Gesichter der Frauen und Männer sind gesenkt. Vor ihnen liegt ein Schädel auf einem weichen lilafarbenen Tuch. Die deutschen Wörter „Herero-Schädel Süd-West-Afrika“ sind in den Stirnknochen eingraviert. Es ist Frühjahr 2018 und die Kolonisierung und der Völkermord in Namibia liegen 120 Jahre zurück. Doch die Echos der Gewalt sind laut und viele Rechnungen noch nicht beglichen.
Eingang zum Raum der Stille im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf. Foto: © Hanni Jokinen
Niemand sagt ein Wort. Dann beginnt Mbakumua Hengari,
Mitglied der Ovaherero/Ovambanderu
Genocide Foundation Namibia (OGF) auf Otjiherero Gedenkworte zu sprechen. Der
Finanzanalyst aus Windhoek stellt dem unbekannten Toten aus dem UKE einige
Vorfahren aus seiner eigenen Familie mit Namen vor und bittet diese toten
Verwandten, den namenlosen Herero für
das erfahrene Leid um Vergebung zu bitten.
Nach der kurzen Zeremonie verhüllt Philipp Osten den Schädel wieder. Der
Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin sowie des
Medizinhistorischen Museums Hamburg am UKE hat zuvor darauf hingewiesen, dass
aus Respekt kein Foto des Schädels veröffentlicht werde. [1]
Prof. Dr. Philipp Osten präsentiert der Delegation das Inventarbuch, in dem der „Herero-Schädel“ verzeichnet ist. Der Schädel selbst wurde zu keinem Zeitpunkt im 2013 eröffneten Museum ausgestellt. © Anke Schwarzer.
Die Inventarkarte des Schädels, © Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Ausschnitt aus dem Inventarbuch, © Anke Schwarzer
Der Mediziner hatte diese menschliche „Fundsache“ [2] im Depot des Museums 2017 publik gemacht und sich über die Hamburger Wissenschaftsbehörde an das Auswärtige Amt gewandt, um die Rückgabe an Namibia in die Wege zu leiten. Diese erfolgte ein Jahr später, zusammen mit 26 weiteren Human Remains aus der Charité in Berlin.
Erst nachdem sich eine Delegation aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Ovaherero und Nama aus den USA, Südafrika und Namibia, bestehend unter anderem aus dem OGF, dem Nama Genocide Technical Committee, dem OvaHerero, Mbanderu and Nama Genocides Institute (ONGI), der Association of the Ovaherero Genocide in the USA (AOG), ankündigte, informierte das Auswärtige Amt im Frühjahr 2018 die namibische Botschaft über den Schädel und seine Herkunft. Nur wenige Tage vor dem Delegationsbesuch gab das Auswärtige Amt die geplante Überführung der menschlichen Überreste nach Namibia mit Hilfe der Kirche bekannt.
Würdevoller Umgang und Entschuldigung
„Ich war gerührt davon, wie würdevoll uns Herr Osten und der Dekan der Medizinischen Fakultät des UKE empfangen und wie sie das schmerzhafte Thema der gestohlenen Überreste unseres Vorfahren behandelt haben“, erinnert sich Kavemuii Murangi, Präsident und Mitbegründer von ONGI. Im UKE erlebten er und die Ovaherero- und Nama-Delegationen aus Namibia und den USA einen würdevollen Umgang mit einem geraubten und geschändeten Schädel – zumindest für den Moment der Zeremonie. Auch die Entschuldigung des Dekans sei aufrichtig gewesen, so Murangi.
Der beschädigte Schädel stammt aus der Neuropathologischen Sammlung Friedrichsberg. Zwischen 1905 und 1934 hatte der Psychiater und Direktor der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, Wilhelm Weygandt, eine 1185 Objekte umfassende Schausammlung mit menschlichen Schädeln, Tierpräparaten und ethnologischen Objekten zusammengetragen. Diese wurde zwischen 1934 und 1946 aufgelöst, lässt sich aber anhand des Inventarbuchs rekonstruieren. Weygandt kaufte die aus Afrika stammenden Schädel zwischen 1917 und 1925 von privaten Händler*innen. Den Schädel, der den Wissenschaftler*innen zufolge aus der OvaHerero-Gesellschaft stammt, erwarb die Staatskrankenanstalt am 1. August 1924 von Johannes Flemming, der vor dem Ersten Weltkrieg für die Organisation von „Menschenzoos“ bekannt war. Dort erhielt er eine weitere Form der Entindividualisierung – eine Numerus Currens-Signatur aus Tinte.
Schädel aus Papua Neuguinea, Kamerun, Australien und China
Die UKE-Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass ein Teil der Sammlung 1942 ins UKE kam. Damals wurde die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg auf Dekret der NS-Gesundheitsverwaltung aufgelöst und die Universitätspsychiatrie der Staatskrankenanstalt ging an das UKE über. Insgesamt umfasst die Sammlung der Human Remains am UKE, die Teil der Neuropathologischen Sammlung Friedrichsberg war, 75 Schädel und einige wenige Schädelfragmente.
2017 konnte die Provenienz der Human Remains anhand eines in anderen Archivbeständen entdeckten Inventarbuchs rekonstruiert werden: Unter ihnen befinden sich neun Schädel aus dem Gebiet der ehemaligen deutschen Kolonie in Papua Neuguinea und sechs menschliche Schädel aus Afrika, die aus dem 20. Jahrhundert stammen: zwei aus Kamerun, einer aus dem Gebiet des heutigen Botswana, einer – jener Herero-Schädel – aus dem heutigen Namibia, einer aus dem Gebiet des heutigen Mosambik und einer aus dem Gebiet der Masai. Darüber hinaus existieren zwei Schädel aus Australien, zwei der Maori, ein Schädel aus dem chinesischen Tsingtau, weitere aus Indien und von Inseln im Indischen Ozean und dem Pazifik sowie 13 Schädel aus Europa. Weitere 22 Schädel konnten die Wissenschaftler*innen Ländern in Süd- und Mittelamerika zuordnen.
Kolonialismus, Völkermord und der Diebstahl von Körperteilen
„Der Schädel gehörte möglicherweise zu einem Opfer des Völkermords in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika“, so Osten. Auffällig sei, dass der Schädel nicht vollständig vorliege, es fehlten ein Teil des Schädels sowie der Unterkieferknochen. Der Schädel stamme von einem Jugendlichen und habe eine Zeit lang im Freien gelegen, was ein Hinweis auf die Vertreibung in die Omaheke-Wüste sein könnte. Der Völkermord an den OvaHerero und Nama fand während des Kriegs 1904 bis 1908 statt und wird von den Nama !Gam-#Wi und von den Otjiherero sprechenden Namibiern Otjindjandja genannt.
Wie viele andere ehemals kolonisierte Gesellschaften kämpfen auch Verbände der OvaHerero und Nama um die Rückgabe menschlicher Gebeine – vor allen Dingen aber um eine zügige transparente Dokumentation aller geraubten Human Remains und deren Provenienz. „Institutionen, die gestohlene Körperteile in ihrem Besitz haben, sollten ihr Inventar nicht nur öffentlich machen, sondern auch den angerichteten Schaden anerkennen und eine Wiedergutmachungsgeste anbieten“, sagt Murangi. Er ist Nachfahre direkter Opfer des OvaHerero- und Nama-Völkermords und setzt sich mit seinem Institut für einen partizipativen Prozess der Restorative Justice ein, um endlich eine Anerkennung, Entschuldigung und Reparation für den Völkermord zu erreichen. „Wir sind erschöpft. 120 Jahre des Kämpfens fordern ihren Tribut. Unsere Hoffnungen werden immer wieder enttäuscht, aber wir dürfen nicht aufgeben“, sagt er mit Blick auf den langen Kampf um Anerkennung. Mit dem Genocide Survivors Project versucht ONGI, Vorfahren, die den Völkermord an den Ovaherero und Nama erlebt und überlebt haben, zu identifizieren und zu ehren. „Sie haben unsägliches Grauen ertragen und uns das Leben geschenkt“, sagt Murangi.
In den Konzentrationslagern hätten weibliche Gefangene abgetrennte Köpfe – von Familienangehörigen oder Bekannten – gekocht und sie mit Glasscherben gereinigt. Die respektvolle Rückgabe und Formen der Wiedergutmachung für die Schändung von Gräbern, den Diebstahl menschlicher Überreste und das Abschneiden von Köpfen und anderen Körperteilen sieht Murangi als einen Bestandteil der noch ausstehenden Reparationen. „Ich bin erstaunt, wie sehr wir immer wieder auf Zehenspitzen gehen müssen, wenn wir versuchen, an unsere Vorfahren heranzukommen und sich die Institutionen nicht einfach nach unseren Anliegen richten“, sagt Murangi.
Bis heute gibt es keine bundesweite öffentlich zugängliche Bestandsliste von menschlichen Gebeinen aus kolonialen Kontexten. Klare Richtlinien und Vorgehensweisen für den Umgang mit Rückführungsforderungen fehlen häufig. [3] Nach wie vor mangelt es an einer Transparenz über die Bestände der Institutionen, die sterbliche Überreste aufbewahren sowie an einer Provenienzforschung, die nicht nur die Herkunft und die Handelswege bis hin zu Museen, Instituten oder Privatwohnungen [4] beleuchtet, sondern auch die weiteren Etappen des Umgangs damit, insbesondere die „Forschung und Lehre“ an den menschlichen Überresten im Kaiserreich, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus sowie in der DDR und der BRD.
Deutschland verletze seine menschenrechtlichen Verpflichtungen aus dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung, so Sarah Imani, Rechtsanwältin und Legal Advisor am European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR): „Die Repatriierung von Ancestral Human Remains ist ein Menschen- und Grundrecht derjenigen Personen, deren menschlichen Überreste in den Archiven deutscher Institutionen in menschenunwürdiger Weise lagern, und ihrer Nachfahren”, sagt sie.
Rassistische Forschungen
Die Human Remains wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Deutschland gebracht, um dort rassistische Forschung zu betreiben und die angebliche Überlegenheit der weißen Europäer*innen zu „belegen“. Allein in Berlin sollen sich bis heute über 9.000 Human Remains aus kolonialen Kontexten befinden. Manche Museumsmitarbeiter*innen und Anthropologen sammelten selbst in Kolonialgebieten, erhielten die menschlichen Überreste aber auch von kommerziellen Sammler*innen, Soldaten oder Ärzten, die vor Ort tätig waren. Im kolonialen Kontext waren die Machtbeziehungen ungleich, rassistisch und gewaltvoll. Menschliche Gebeine wurden getauscht, gekauft oder aus Gräbern gestohlen. Im Falle des Völkermords an den OvaHerero wurden auch Schädel in der westlichen Kalahari „gesammelt“. Dorthin waren viele Menschen nach der Schlacht von Ohamakari 1904 geflüchtet und verdurstet. [5]
Wohin mit den zurückgekehrten namenlosen Gebeinen?
Auch nach der Rückgabe stellt sich die Frage, wie Herkunftsgesellschaften, Familien und staatliche Institutionen mit den Human Remains umgehen sollen. Die Zahl der menschlichen Überreste in namibischen Institutionen wächst durch Rückführungen beständig. Die erste Rückführung fand 2011 statt, als die Human Remains von 20 Verstorbenen aus der Berliner Charité an Namibia zurückgegeben wurden. Beim Eintreffen der menschlichen Schädel haben tausende Namibier*innen am Flughafen von Windhuk gewartet. „Welcome Home", stand auf Spruchbändern geschrieben. In mit der namibischen Flagge geschmückten Särgen wurden die Schädel von Angehörigen der OvaHerero und Nama aus dem Flugzeug getragen. [6] Eine zweite Rückführung mit den Überresten von 35 Menschen erfolgte 2014, eine weitere mit denen von 27 Opfern 2018. Insgesamt sind aus Deutschland bis heute die Körperteile von insgesamt 82 Menschen nach Namibia zurückgebracht worden. Aufbewahrt werden sie derzeit im Namibischen Nationalmuseum, im Namibischen Nationalarchiv und in anderen Einrichtungen überall im Land. [7]
Kavemuii Murangi (2. v. links) und andere Mitglieder der OvaHerero- und Nama-Delegation beim Besuch des Medizinhistorischen Museums, 2018. Foto: © Hanni Jokinen
Die Art und Weise der Rückführungen speziell nach Namibia steht häufig in der Kritik. Hintergrund ist, dass eine offizielle Anerkennung, Entschuldigung und Reparation der Kolonialverbrechen bislang ausgeblieben ist und die deutsche Regierung die Übergabezeremonien nicht in ihren eigenen Regierungsgebäuden abhält, sondern in Krankenhäusern wie der Charité oder in Kirchen. Auch Osten betont mit Blick auf die Restitution von 2018, dass die Rückgaben in einem angemessenen Rahmen stattfinden sollten: „Dies war ein Kunstgriff zur Vermeidung eindeutiger politischen Zugeständnisse. Ich hoffe, dass in Berlin ein Paradigmenwechsel stattfindet“, sagt Osten, der sich für zügige und würdevollen Rückgaben stark macht.
Die behördlichen Wege indes sind häufig sehr verschlungen, die Prozesse langwierig. Und nicht immer ist es einfach, zu klären wie eine Rückgabe genau von statten gehen soll und welche Institutionen daran zu beteiligen sind. Das Auswärtige Amt wurde vom UKE gebeten, die jeweiligen Botschaften über die vorhandenen Human Remains zu informieren. Doch außer dem „Herero-Schädel“ wurde von den über 70 menschlichen Überresten aus dem Medizinhistorischen Museum am UKE bislang kein einziger zurückgeführt.
Auf dem Weg zum Raum der Stille im UKE. Foto: © Anke Schwarzer
Mbakumua Hengari von der Ovaherero/Ovambanderu Genocide Foundation (OGF) spricht auf einer Kundgebung im April 2018 in Hamburg. Foto: © Anke Schwarzer
Kundgebung vor dem Woermann-Haus, April 2018. Foto: © Anke Schwarzer
Kundgebung „It cannot be about us without us!“ in Hamburg im April 2018. Foto: © Anke Schwarzer
Umschlag und Teil der ersten Seite des Inventarbuchs der Friedrichsberg-Sammlung von Schädeln, Skeletten und anderen Objekten. Foto: © Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Ausschnitt)