Das fiktive Tagebuch umfasst die Erlebnisse und Gedanken während einer realen Reise des Prinzen Samson Dido aus Didotown in Kamerun, Schwager des Königs Duala King Bell. Er reist nach Deutschland in das Land der Kolonialherren seines Landes. Er kommt mit seiner Familie in Hamburg an, um vier Monate an den Völkerschauen des Zoobetreibers Carl Hagenbeck teilzunehmen. Sein Tagebuch half Samson Dido, die Eindrücke in der fremden Welt zu verarbeiten.
Zur Entstehung des fiktiven Tagebuchs: Schulprojekt „weisse flecken der erinnerung“, 2013
Die Schülerin Jessica Köster schrieb und illustrierte ihr spannendes literarisches „Tagebuch des Kameruner Prinzen Samson Dido“ im Rahmen des Schulprojektes „Weiße Flecken der Erinnerung". In dem fiktiven Tagebuch beschreibt sie die Gedanken und Erfahrungen eines afrikanischen Würdenträgers, der sich von Carl Hagenbecks Agenten zur Teilnahme an den rassistischen „Völkerschauen“ überreden ließ. Im Jahr 1886 war er mit seiner Familie tatsächlich nach Hamburg gereist. Mit viel Empathie versetzt sich Jessica Köster in die Gefühlslage des kolonisierten Prinzen zwischen Faszination und Anpassung, Auflehnung und Selbstermächtigung. Jessica Köster wurde für das Tagebuch 2014 der renommierte Hamburger
BERTINI-Preis verliehen.
Jessica Köster bei der Verleihung des Hamburger BERTINI-Preises 2014. © Hannimari Jokinen
Im Projekt „Weiße Flecken der Erinnerung“ hatte sich die Klasse 13c der Stadtteilschule Eidelstedt mit den bildenden Künstlerinnen Hannimari Jokinen und Annika Unterburg auf die Suche nach kolonialen Spuren in Hamburgs Stadtraum gemacht. Im Profilunterricht „Macht der Bilder“ in den Fächern Geschichte (Lehrer: Peter Hoffmann) und Kunst (Lehrerin: Julia Sonntag) folgten vertiefende Gespräche über die Kolonialvergangenheit unserer Stadt und die Akteur:innen des antikolonialen Widerstands. Die Sensibilisierung für noch heute wirkmächtige koloniale Bilder und ihre Dekonstruktion bildete einen weiteren Schwerpunkt. Annika Unterburg führte in die Kunstgeschichte von Forschungsbüchern ein. Das Projekt fand im Rahmen des Modellprojekts „
Kulturagenten für Kreative Schulen“ (Kulturagentinnen: Andreja Dominko und Julia Strobel) statt. Im Kulturagentenprogramm erfuhr „Weiße Flecken der Erinnerung“ eine besondere Auszeichnung, als es unter den bundesweit zahlreichen Schulprojekten für eine Ausstellungspräsentation nach Berlin ausgewählt wurde.
Die beeindruckenden Kunstbücher der Schüler:innen wurden im Bürgerhaus Eidelstedt und in der Kulturfabrik Kampnagel im Rahmen des Young Star Festivals präsentiert. Weitere Informationen zu den künstlerischen Forschungsbüchern:
http://www.afrika-hamburg.de/eidelstedt.html. Sie wanderten mit der Ausstellung freedom roads! koloniale straßennamen • postkoloniale erinnerungskultur, die 2013 im Kunsthaus Hamburg und im Münchner Stadtmuseum gezeigt wurde.
Hannimari Jokinen
Die Kunstbücher der Schüler:innen in der Ausstellungs freedom roads! 2013 im Kunsthaus Hamburg. © Hannimari Jokinen
© Hannimari Jokinen
20. April 1886
Reise nach Deutschland
Vorteile:
• Menschen treffen und Kontakte knüpfen
• eine fremde Kultur kennen lernen
• neue Erfahrungen sammeln
• Geld verdienen
• und vor allem: Kameruner Kultur vorstellen
Nachteile:
• nur acht Familienmitglieder können mitreisen
• wir müssen für eine Weile Kamerun verlassen
Nach sorgfältiger Überlegung werden ich und einige Familienmitglieder die Reise nach Deutschland antreten.
Mit mir reisen:
• mein Bruder Adjatay
• zwei meiner Frauen – Adeola und Adesola
• mein Sohn Lungile
• ein Haushofmeister
• zwei Diener
Carl Hagenbeck wird mir einen Vertrag zusenden.
© Hannimari Jokinen
Vertrag zwischen Herrn Samson Dido und Herrn Carl Hagenbeck, 24.4.1886
Carl Hagenbeck engagiert Samson Dido mit Familie, im Ganzen acht Personen, nach Deutschland zu reisen...
Carl Hagenbeck verspricht ... seine Reise und Verpflegung hin und zurück und während ihres Aufenthaltes in Deutschland, ferner ein festes Salair ... von 400 Mark monatlich.
Carl Hagenbeck verlangt keinerlei Arbeit von der Truppe, nur Leuten ihre Sitten und Gebräuche zu zeigen. Ferner verpflichtet sich Carl Hagenbeck, Samson Dido mit Familie vor Weihnachtszeit nach ihrer Heimat retour zu senden. ...
05. Juni
Der Vertrag ist angekommen, von mir unterschrieben und dem Hamburger Kaufmann Franz, zurückgegeben. Es geht in zwei Tagen los. Ich gebe mich gegenüber meiner Familie gelassen, bin aber schon gespannt auf die Reise. Werden die Deutschen uns mögen? Wie werden sie sich uns gegenüber verhalten?
© Hannimari Jokinen
6. Juni
Auf dem Photo ist das Schiff „Aline Woermann“, mit dem wir reisen werden. Es sei sehr groß, sagt Franz. Ich habe schon viele Schiffe gesehen, aber noch nie einen solchen „Dampfer“. Auch mein Sohn ist aufgeregt, und meine zwei Frauen reden von nichts anderem mehr.
© Hannimari Jokinen
9. Juni
Jetzt sind wir schon zwei Tage an Bord. Überall Wasser, das so wild und gewaltig ist und nirgends Land. Am Abend ist das Meer pechschwarz und grausam. Die Zimmerkabinen sind eng und stickig. Mir ist ein wenig mulmig zumute, und mein Magen revoltiert. Ich lege mich hin.
© Hannimari Jokinen
7. Juli
Uns wurde mitgeteilt, dass wir in elf Tagen ankommen werden. Mittlerweile hat sich mein Magen an die Fahrt gewöhnt.
Meiner Frau Adeola geht es nicht gut. Sie ist 14 Jahre alt und hat zum ersten Mal ihre Periode bekommen. Das ist in unserer Kultur ein Ereignis. Wir feiern ihr Frausein. Allerdings ist sie traurig, dass ihre Mutter bei diesem Anlass nicht bei ihr sein kann. Gott beschütze Adeola, auf dass sie mich liebt und mir Kinder gebärt!
17. Juli
Ich bin von der Fahrt müde. Noch ein Tag, dann sind wir endlich da! Letzte Woche gab es trockenes Schwarzbrot mit Bismarckhering. Es war köstlich und steigert meine Vorfreude auf Deutschland. Ich hoffe, dass auch sie sich auf uns freuen. Das Klima wird milder, die Sonne schwächer. Es scheint, als würden wir in eine neue Welt reisen.
© Hannimari Jokinen
21. Juli
Wir sind vor drei Tagen angekommen. Unterkunft haben wir in der Dachkammer in Carl Hagenbecks Haus gefunden. Von hier aus ging es gleich zum nahegelegenen zoologischen Garten. Ich habe die anderen Volksgruppen kennengelernt, die ebenso an der Volkerschau teilnehmen. Die Beobachtung derer Sitten und Gebräuche scheint den Zuschauern ein Genuss zu sein. Ich freue mich, wenn auch wir Kamerun repräsentieren können. Wir fangen in drei Tagen damit an.
© Hannimari Jokinen
24. Juli
Heute war unser erster Arbeitstag. Wir mussten Schrittfolgen einstudieren, die uns ganz fremd vorkamen. Der Tanz war merkwürdig und entsprach keinem Kameruner Tanz. Diesen stellten wir dann den Zuschauern vor. Dabei dachte das Publikum, es sei ein echter Kameruner Tanz. Einige schauten interessiert zu, andere lachten. Wir mussten weiter machen, denn schließlich werden wir ja dafür bezahlt.
© Hannimari Jokinen
1. August
Die Arbeit im Zoo ist dumm. Heute mussten wir Kostüme mit Baströckchen anziehen. Wir sahen aus wie … „Wilde“! Wir bekommen tagtäglich neue Vorlagen – Trommelstücke, Ringkämpfe und ähnliches. Meine Familie ist traurig und böse, doch ich kann ja nichts für die peinliche Situation. Ich habe mit Carl Hagenbeck gesprochen und er sagte nur: ,,Wir geben den Menschen nur, was sie wollen. Ihr seid uns ähnlich, doch sie wollen etwas Fremdes.“ Wir wollen zurück, doch der Vertrag hält uns hier gefangen. Hagenbeck ist ein Teufel mit zwei Gesichtern!
© Hannimari Jokinen
8. August
Wir müssen immer in Hagenbecks Haus bleiben. Heute nahm er uns zum ersten Mal mit in die Stadt, und die Passanten riefen: „Guck mal, Hagenbeck und die Wilden!” Ich wurde böse, aber Hagenbeck fixierte mich, damit ich lächeln soll.
© Hannimari Jokinen
15. August
Wie hier im Bild werden auch wir in Szene gesetzt. Es ist nicht zu fassen, dass das Publikum diese Aufführungen für bare Münze nimmt! Heute eine Neuigkeit: der Kronprinz Friedrich Wilhelm hat mich zu einem Gespräch nach Berlin eingeladen! Ich werde mit dem Zug fahren.
© Hannimari Jokinen
24. August
Krone zu Krone, Mensch zu Mensch? Nicht ganz.
Der Thronfolger lud mich in den Muschelsaal seines Schlosses in Berlin ein. Anfangs unterhielten wir uns prächtig, und er machte mir Geschenke, auch eine Ehrenmedaille war dabei. Dann schmeichelte er mir: „Sie sind doch ein intelligenter Mann! Was halten Sie von einer Zusammenarbeit? Profitieren würde Kamerun genauso wie das Deutsche Reich.“ Über diesen Vorschlag bin ich empört. Mit dem hinterlistigen Mann, der meine Brüder und Schwestern betrügt und demütigt, werde ich nie zusammen arbeiten! Meine Antwort war abweichend: „Ich werde es mir überlegen“ und bat dann darum, den Raum verlassen zu dürfen.
© Hannimari Jokinen
26. August
Noch immer in Berlin. Heute wurde ich in die Praxis des Dr. Virchow gebracht. Er beäugte mich so, als wäre ich eigenartig. Er behauptete, es sei nur eine Routineuntersuchung. Er vermaß meinen Kopf und Körper und murmelte „sehr interessant, sehr interessant“. Und wieder hatte ich das Gefühl, als Tier oder „Wilder“ behandelt zu werden. Keine Würde! Ich schämte mich so sehr!
18. September
Endlose Tage wurden wir im „Vergnügungsetablissement Flora“ in Kreuzberg ausgestellt. Jetzt sind wir wieder in Hamburg. Tagsüber ein „Wilder” und abends ein Ehrenmann. Ich treffe Menschen, die mir Honig ums Maul schmieren, um von meinem Amt in Kamerun zu profitieren. Ich habe mit ihnen zusammen gesessen, aber ihre Ideen kamen mir närrisch vor.
© Hannimari Jokinen
26. September
In den letzten Wochen sind wir mit der Völkerschau durch deutsche Städte umhergezogen. Von den Inszenierungen unserer angeblich „Kameruner” Kultur waren die Zuschauer begeistert. Dummköpfe! Der Winter naht, und wir werden nun bald abreisen. Ich freue mich auf das Heimatland.
15. Oktober
Wir reisen ab. Weg von Lügnern und Heuchlern und zurück in die Welt des wahren Wortes. Jetzt heißt es: Abschied nehmen. Auf kein Wiedersehen, Deutschland! Hallo geliebtes Kamerun!