Dan Thy Nguyen

© Anke Schwarzer

Dan Thy Nguyen
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„Die kolonialen Verbindungen zu Vietnam sind nicht so offensichtlich wie in anderen Kontexten.“ 

Interview: anke schwarzer, 2020

Welcher Ort in Hamburg kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die koloniale Geschichte und Gegenwart denken?

 

Das Cap Anamur Denkmal an den Landungsbrücken, das 2009 von vietnamesischen Boat People zum Dank an ihre Rettung errichtet wurde. Die Flucht war auch eine Auswirkung des Kolonialismus in Asien. Der Begriff asiatischer Raum ist zwar exotisierend, aber es entstehen ja jetzt erst Diskurse wie man geografische Räume fernab des kolonialen Kontextes denkt und benennt. Wenn wir aber den Begriff Asien doch kurz nehmen, dann kommt häufig der Einwand, dass es Länder wie Vietnam oder China nicht so getroffen habe wie den Kontinent Afrika. Es besteht auch die Gefahr, dass die Geschichten gegeneinander ausgespielt werden. Vielleicht sind die kolonialen Verbindungen zu Vietnam nicht so offensichtlich wie in anderen Kontexten. Das liegt auch einfach daran, dass das Deutsche Reich in Vietnam nicht so aktiv war wie zum Beispiel Frankreich. Das ist vollkommen klar. Auch die Einmischung später von Amerika hat mit einer ganz anderen Massivität eingesetzt. Interessant ist aber, dass die Folgen des Kolonialismus und der Widerstandskämpfe gegen Kolonialisierung Auswirkung auf die Bundesrepublik Deutschland hatten. Nach dem Krieg wurden Boat People aufgenommen. Hier sehen wir übrigens große Unterschiede zu den Boat People heutzutage. Es gab in der westdeutschen Bevölkerung eine außerordentlich große Bereitschaft zu unterstützen, vor allem wenn man dies mit anderen Fluchtbewegungen vergleicht. Nicht nur in der Zivilgesellschaft, auch in der Politik und in den Kirchen wurden Patensysteme etabliert. Es gab gut organisierte Ehrenamtssysteme, die für Geflüchtete in den Jahren 2015 bis 2020 nicht zur Verfügung standen.

War das Ehrenamtssystem damals nicht sogar staatlich mitorganisiert, etwa über die Sozialämter?

 

Die Bundesländer haben es unterschiedlich organisiert. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, aus einem sehr katholisch geprägten Ort, dort wurde es zum Beispiel sehr stark kirchlich organisiert. Das Interessante an dieser ganzen Geschichte ist, dass ein verhältnismäßig großer Teil der Vietnamesen in Westdeutschland Christen war, häufig auch Jesuiten. Wobei selbstverständlich auch Buddhisten und Atheisten dabei waren. Das liegt an der starken Verbindung von Frankreich und deren Missionierung durch katholische Jesuiten in Vietnam und an der Angst der katholisch-jesuitischen Bevölkerung im Sozialismus, entweder bestraft zu werden oder ihre Religion nicht ausüben zu dürfen.“ Südvietnam hatte vor der Wiedervereinigung auch mit dem Präsidenten Ngô Đình Diệm eine katholische, französisch installierte Regierung, die sehr grausam war. Es gab Angst, dass Racheaktionen verübt werden könnten. 

Welche Verbindungen von Kolonialismus, Krieg und Flucht sehen Sie zu Orten in Hamburg?

 

Hamburg gehörte zu den Bundesländern, die Boat People aufgenommen haben, auch viele, die von der NGO von Rupert Neudeck, der Cap Anamur, aus dem Meer gerettet worden waren. Und so gibt es an den Landungsbrücken ein Denkmal als Dank. Allerdings bewegen wir uns moralisch in einer absoluten Grauzone, die jede Bewertung erschwert. Natürlich war es sehr gut, dass Menschen vor dem nahezu sicheren Tod gerettet wurden. Gleichzeitig ist aber die Flucht überhaupt erst aus den Nachwirkungen des Kolonialismus entstanden. Das, was die Jesuiten im 19. und 20. Jahrhundert in Vietnam gemacht haben, ist moralisch verwerflich und es muss aufgearbeitet werden. Es bedeutet aber nicht, dass die christlich motivierte Rettung von Menschen falsch gewesen wäre. Das ist ein westdeutsches Phänomen, denn die DDR hat keine Boat People aufgenommen, weil sie als Kollaborateure des US-Imperialismus galten. Es drehen sich viele Mythen um die vietnamesischen Boat People in Hamburg, in Deutschland und insbesondere in Westdeutschland.

Welche Mythen meinen Sie?

 

Den Mythos, die bestintegrierte migrantische Community in Deutschland, besonders in Westdeutschland, zu sein. Das ist eine sehr verwobene Geschichte. Ein Großteil der Menschen hatte durch den Kolonialismus in Südvietnam bereits eine Verbindung zu Europa und sie waren durch ein französisch-koloniales Schulsystem gegangen. Auch durch den Katholizismus war eine schnelle Verbindung zu den Kirchen da. Und Formen von nationalistischen Strömungen konnten hier im Nachkriegsdeutschland ebenfalls schneller andocken als im Sozialismus der DDR.
In Hamburg hat sich ein Verein von und für die vietnamesischen Boat People gegründet. Dieser Verein ist sehr konservativ. Das führt dazu, dass viele Versuche der Dekolonisierung der Gedanken verhindert werden. Wir sehen das bei der Initiative zum Gedenken an zwei Boat People, die durch rechte Gewalt in einer Unterkunft in der Halskestraße getötet wurden. Der Verein hat sich nicht auf die Seite der sogenannten Opfer gestellt, weil er die Initiative nicht nur als nicht unterstützenswert, sondern sogar als bekämpfenswert ansieht. 

Das hört sich nun ein bisschen so an, als sei Hamburg bereit sich zu dekolonisieren und endlich auch eine Erinnerungskultur an die beiden vergessenen Ermordeten zu entwickeln – aber nur dieser Vietnamesische Verein verhindere dies. Wie würden Sie das Verhältnis sehen?

 

Die Stadt Hamburg ist sich der Verbindungslinie zwischen französischem Kolonialismus, vietnamesischen Boat People und dem Einfluss der USA überhaupt nicht bewusst – dieser Komplex ist noch in keiner Weise aufgearbeitet. Was wir aber in Bezug auf den Vietnamesischen Verein und die konservativen Kräfte der vietnamesischen Boat People sehen, ist eine starke Romantisierung des Kolonialismus. Auch das starke Benutzen des im konfuzianischen Sinne philosophischen Gedankens der Dankbarkeit verhindert in diesem Fall eine kritische Aufarbeitung.
Da will ich die Stadt Hamburg gar nicht in Schutz nehmen, aber ich glaube, sie weiß es einfach nicht besser, weil sie sich nicht damit beschäftigt hat. Behörden nehmen gerne solche traditionellen Vereine und Communities als Gesprächspartner. Das verhindert, die Verwobenheit und Komplexität der Geschichte zu sehen.

In welchem Licht sehen Sie das Denkmal an den Landungsbrücken angesichts dieser Komplexität?

 

Ich glaube, dass dieser Ort genau das Gedankengut der ersten Generation der traditionellen, teilweise nationalistischen Boat People zeigt. Eigentlich bräuchte er noch eine Kontextualisierung. Zwar ist das Denkmal von den Boat People selber initiiert worden, es war also Teil eines Partizipationsprozesses. Gleichzeitig braucht es aber eine Form dafür, wie diese Flucht überhaupt entstanden ist.

Wie könnte eine Kontextualisierung an diesem oder vielleicht auch an einem anderen Ort aussehen?

 

Es braucht zunächst eine Vielstimmigkeit. Es werden momentan in überproportional hohem Maße traditionelle Kräfte abgefragt, um die Geschichte der Boat People zu bewerten.
„Ein vielstimmiger Raum für die Komplexität dieser Geschichte muss geschaffen werden.”
Wie? Ich glaube, dazu sind mehrere Schritte nötig. Ich denke, als erstes müssen die kritischen Stimmen überhaupt gehört werden. Sie werden langsam lauter. Und es braucht einen zivilgesellschaftlichen Support für genau diese Stimmen, denn sie fühlen sich von den traditionellen Kräften auch angegriffen. Die gesamte Geschichte ist komplexer, als es uns dieses Denkmal zeigt. Es betont die Dankbarkeit, vernachlässigt aber Rassismus und rassistische Mordanschläge. Die Autorität dieser Generation wird sehr hochgehalten und die konfuzianische Dankbarkeit ist in dem Gewebe sehr stark. Erst die neuen Generationen in Vietnam beginnen mit der Kritik an diesen Strukturen. Und hier in Deutschland steckt diese Entwicklung noch völlig in den Kinderschuhen. Hier droht noch die Gefahr der Exkommunikation aus den Communities oder des Herausbrechens aus Familiensystemen. Es gibt in der westdeutschen Boat People Community keine Geschichte, keine Tradition der Kritik am Kolonialismus. Das war in den Communities in der früheren DDR ein bisschen anders und deswegen steht dieser Ort in Hamburg, steht dieses Denkmal auch dafür, dass es keine Tradition des Postkolonialismus in Westdeutschland in Bezug auf Vietnam gibt.