© Anke Schwarzer
„Die kolonialen Verbindungen zu Vietnam sind nicht so offensichtlich wie in anderen Kontexten.“
Welcher Ort in Hamburg kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an die koloniale Geschichte und Gegenwart denken?
Das Cap Anamur Denkmal an den Landungsbrücken, das 2009 von vietnamesischen Boat People zum Dank an ihre Rettung errichtet wurde. Die Flucht war auch eine Auswirkung des Kolonialismus in Asien. Der Begriff asiatischer Raum ist zwar exotisierend, aber es entstehen ja jetzt erst Diskurse wie man geografische Räume fernab des kolonialen Kontextes denkt und benennt. Wenn wir aber den Begriff Asien doch kurz nehmen, dann kommt häufig der Einwand, dass es Länder wie Vietnam oder China nicht so getroffen habe wie den Kontinent Afrika. Es besteht auch die Gefahr, dass die Geschichten gegeneinander ausgespielt werden. Vielleicht sind die kolonialen Verbindungen zu Vietnam nicht so offensichtlich wie in anderen Kontexten. Das liegt auch einfach daran, dass das Deutsche Reich in Vietnam nicht so aktiv war wie zum Beispiel Frankreich. Das ist vollkommen klar. Auch die Einmischung später von Amerika hat mit einer ganz anderen Massivität eingesetzt. Interessant ist aber, dass die Folgen des Kolonialismus und der Widerstandskämpfe gegen Kolonialisierung Auswirkung auf die Bundesrepublik Deutschland hatten. Nach dem Krieg wurden Boat People aufgenommen. Hier sehen wir übrigens große Unterschiede zu den Boat People heutzutage. Es gab in der westdeutschen Bevölkerung eine außerordentlich große Bereitschaft zu unterstützen, vor allem wenn man dies mit anderen Fluchtbewegungen vergleicht. Nicht nur in der Zivilgesellschaft, auch in der Politik und in den Kirchen wurden Patensysteme etabliert. Es gab gut organisierte Ehrenamtssysteme, die für Geflüchtete in den Jahren 2015 bis 2020 nicht zur Verfügung standen.
War das Ehrenamtssystem damals nicht sogar staatlich mitorganisiert, etwa über die Sozialämter?
Die Bundesländer haben es unterschiedlich organisiert. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, aus einem sehr katholisch geprägten Ort, dort wurde es zum Beispiel sehr stark kirchlich organisiert. Das Interessante an dieser ganzen Geschichte ist, dass ein verhältnismäßig großer Teil der Vietnamesen in Westdeutschland Christen war, häufig auch Jesuiten. Wobei selbstverständlich auch Buddhisten und Atheisten dabei waren. Das liegt an der starken Verbindung von Frankreich und deren Missionierung durch katholische Jesuiten in Vietnam und an der Angst der katholisch-jesuitischen Bevölkerung im Sozialismus, entweder bestraft zu werden oder ihre Religion nicht ausüben zu dürfen.“ Südvietnam hatte vor der Wiedervereinigung auch mit dem Präsidenten Ngô Đình Diệm eine katholische, französisch installierte Regierung, die sehr grausam war. Es gab Angst, dass Racheaktionen verübt werden könnten.
Welche Verbindungen von Kolonialismus, Krieg und Flucht sehen Sie zu Orten in Hamburg?
Hamburg gehörte zu den Bundesländern, die Boat People aufgenommen haben, auch viele, die von der NGO von Rupert Neudeck, der Cap Anamur, aus dem Meer gerettet worden waren. Und so gibt es an den Landungsbrücken ein Denkmal als Dank. Allerdings bewegen wir uns moralisch in einer absoluten Grauzone, die jede Bewertung erschwert. Natürlich war es sehr gut, dass Menschen vor dem nahezu sicheren Tod gerettet wurden. Gleichzeitig ist aber die Flucht überhaupt erst aus den Nachwirkungen des Kolonialismus entstanden. Das, was die Jesuiten im 19. und 20. Jahrhundert in Vietnam gemacht haben, ist moralisch verwerflich und es muss aufgearbeitet werden. Es bedeutet aber nicht, dass die christlich motivierte Rettung von Menschen falsch gewesen wäre. Das ist ein westdeutsches Phänomen, denn die DDR hat keine Boat People aufgenommen, weil sie als Kollaborateure des US-Imperialismus galten. Es drehen sich viele Mythen um die vietnamesischen Boat People in Hamburg, in Deutschland und insbesondere in Westdeutschland.
Welche Mythen meinen Sie?
Das hört sich nun ein bisschen so an, als sei Hamburg bereit sich zu dekolonisieren und endlich auch eine Erinnerungskultur an die beiden vergessenen Ermordeten zu entwickeln – aber nur dieser Vietnamesische Verein verhindere dies. Wie würden Sie das Verhältnis sehen?
In welchem Licht sehen Sie das Denkmal an den Landungsbrücken angesichts dieser Komplexität?
Wie könnte eine Kontextualisierung an diesem oder vielleicht auch an einem anderen Ort aussehen?