An der Bushaltestelle Schimmelmannstraße. Dekoloniale Straßenumbenennungen in Hamburg? Fehlanzeige.

© Francisco Vidal

An der Bushaltestelle Schimmelmannstraße. Dekoloniale Straßenumbenennungen in Hamburg? Fehlanzeige.

Es gibt schätzungsweise 130 kolonial belastete Straßennamen in Hamburg, darunter solche, die Menschenhändler und Kolonialverbrecher ehren, weitere, die an „Kolonialwaren“ erinnern oder an „überseeische Besitzungen“. Seit 2010 ist der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial darum bemüht, zumindest einige dieser problematischen Straßennamen umbenennen zu lassen, bisher ohne Erfolg.

Hannimari Jokinen
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Die Stadt Hamburg will sich nach eigenem Bekunden stadtweit dekolonisieren, doch das Verwaltungsverfahren zur Umbenennung von kolonial belasteten Straßennamen ist langwierig und fehleranfällig. In Hamburgs HafenCity wurden sogar neue Straßen in ungebrochener Kolonialtradition nach Welteroberern benannt. [1] So wurde Anfang Juni 2021 der größte Platz im neuen Stadtteil nach dem Welteroberer Amerigo Vespucci benannt, vergebens protestierten Initiativen und Aktivist*innen dagegen. [2]

Es handelt sich dabei um ein komplexes Phänomen, das auf der Weitergabe des kulturellen und intergenerationellen Gedächtnisses sowie der maßgeblichen aktiven Einbeziehung tiefer emotionaler Bindungen beruht. Ausgehend von unseren persönlichen Erfahrungen in Europa stellen wir einige Überlegungen zur Entwicklung einer transnationalen kapverdischen Gesellschaft des afrikanischen Kontinents an, die durch eine kreolische Identität und eine afrikanische sowie europäische historische Präsenz geprägt ist.

Geschichtsvergessenheit markiert auch im Jahr 2013 die unangemessene Benennung des zentralen Gebrüder-Cohen-Parks auf der Harburger Schlossinsel. Albert und Louis Cohen gründeten im Jahr 1856 eine kautschukverarbeitende Fabrik in Hamburg-Harburg, die späteren Phoenix-Werke. Dass am Werkstoff Kautschuk Blut der zur Zwangsarbeit getriebenen Kolonisierten klebte, dürfte weder den damaligen Unternehmern, noch der heutigen Harburger Politik entgangen sein.

Im Jahr 2019 erfolgte dann die Neubenennung eines Platzes im Bezirk Hamburg-Nord nach Emily Ruete, die erst nach Protesten Ende 2020 zurückgenommen wurde. 

Von allen deutschen Städten verfügt Hamburg vermutlich über die meisten Straßen, die Menschenhändler, Kolonialoffiziere und -kaufleute ehren, doch bisher wurde keine einzige dieser Straßen umbenannt. Andere Städte, aktuell etwa Berlin oder Erfurt, sind da mit Straßenumbenennungen schon weiter. Wie mühsam diese Prozesse in Hamburg tatsächlich sind, zeigt sich an konkreten Beispielen der letzten zehn Jahre. Im Jahr 2011 trat ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis zusammen mit Selbstorganisationen der Black Community – insgesamt 23 Initiativen – an die Bezirksversammlung Wandsbek heran, um die Wissmannstraße, den Dominikweg und die vier den Menschenhändler Heinrich Carl von Schimmelmann und seine Familie würdigenden Straßen umzubenennen. [3] Keine der Bezirksparteien erklärte sich bereit, auch nur einmal über die Umbenennung der Schimmelmann-Straßen nachzudenken. Die Umbenennung der Straßen, die die Kriegsverbrecher Hermann von Wissmann und Hans Dominik ehren, wurde zwar in der Bezirksversammlung beschlossen, doch kurz vor den Bezirkswahlen wieder fallen gelassen, zumal sich am Dominikweg eine lautstarke Bürgerinitiative gegen die Umbenennung formiert hatte. 

Im Jahr 2012 stellte ein weiteres zivilgesellschaftliches Bündnis einen Antrag auf die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften in Hamburg und Altona für Alfred Graf von Waldersee. Die Stadt Hamburg beschied, an den Ehrenbürgerschaften festhalten zu wollen, doch auf ihrer Webseite auf Waldersees unrühmliche Kolonialbiografie als Oberkommandierender der internationalen Truppen im „Boxerkrieg“ in China (1900/01) hinzuweisen. [4] Darauf folgte ein Antrag der Initiativen beim Bezirksamt Hamburg-Altona auf die Umbenennung der Walderseestraße in Othmarschen. Angeregt durch Vertreter*innen der chinesischen Community in Hamburg wurde als neuer Namensgeber Chong Tin Lam vorgeschlagen.

Nach den Kolonialkriegen bis Anfang des 20. Jahrhunderts lag China in Trümmern. Viele Menschen wanderten aus, so auch Chong Tin Lam. Der gelernte Koch eröffnete im Hamburger „Chinesenviertel“ auf St. Pauli ein Restaurant der kantonesischen Küche. Im Zuge ihrer rassistischen „Chinesenaktion“ im Jahr 1944 inhaftierte die Gestapo ihn und seine Landsleute und verschleppte sie in „Erziehungslager“. Chong Tin Lam überlebte Folter und Zwangsarbeit und kehrte nach dem Krieg zurück. Wiedergutmachung wurde ihm von der Landesbehörde verweigert. Bis zu ihrem Ableben im Jahr 2021 betrieb seine Tochter Marietta Solty das ehemalige Restaurant als „Hong-Kong Bar“ weiter. Der Vorschlag der AG „Kontext Waldersee“ aus dem Jahr 2018, die Walderseestraße in Chong-Tin-Lam-Straße umzubenennen, stieß im Stadtteil Othmarschen und bei der Altonaer Bezirksversammlung auf taube Ohren.

Im Jahr 2018 organisierte unser Bündnis eine Informationsveranstaltung für die Anwohner*innen der Walderseestraße. [5] Die Bezirksversammlung Altona erkannte an, dass Waldersee zwar zahlreiche Kriegsverbrechen im „Boxerkrieg“ begangen habe, doch es sei den Anwohner*innen nicht zuzumuten, die Straße umzubenennen. Bewilligt wurde eine Ergänzungstafel auf dem Geschichts- und Kulturpfad Othmarschen, die jedoch nie angebracht wurde.  

Chong Tin Lam in seinem Restaurant „Hong Kong“ am Hamburger Berg auf St. Pauli. Foto: Sammlung Marietta Solty.

Marietta Solty, die Betreiberin der „Hong Kong Bar“ mit dem Porträt ihres Vaters Chong Tin Lam. Mit ihrem Ableben im Jahr 2021 ist die Zukunft dieses Ortes in Erinnerung an das einstige „Chinesenviertel“ in Hamburg ungewiss. Foto: Ulrike Schmidt, 2019. 

Seit 2016 ist der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial mit den Verbänden der Ovaherero und Nama, mit Selbstorganisationen der Black Community und der Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt im Bezirk Hamburg-Nord dabei, die Umbenennungen des Woermannswegs, des Woermansstiegs [6] und des Justus-Strandes-Wegs [7] voranzutreiben. Der Antrag zur Umbenennung wurde von den Herero- und Nama-Verbänden in Namibia und den USA mit initiiert und von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis unterstützt. [8] Für den Woermannsweg und Woermannsstieg schlagen die Verbände der Nachkommen der Genozidopfer zwei Namen vor: Louisa Kamana, Tochter des Ovaherero-Chiefs Kamana in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Ein deutscher Händler tötete die 24-Jährige und ihr Baby und ging straffrei aus. Unter den Ovaherero gelten dieser Mord sowie die vielen weiteren Fälle sexualisierter Gewalt gegen Frauen als zentrale Impulsgeber für ihren Aufstand gegen die deutsche Willkürherrschaft, der zum Krieg und schließlich zum Völkermord an den Ovaherero führte. Weitere wichtige Gründe waren Rassismus und Landenteignung. Der Name des Namakapteins Cornelius Fredericks wiederum steht für eine zentrale Persönlichkeit des militärischen Widerstandes der Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Es gelang ihm, 16 Monate lang gegen die in Waffengewalt weit überlegene deutsche „Schutztruppe“ Widerstand zu leisten. Schließlich wurde Fredericks gefangen genommen und in ein Konzentrationslager an der Südküste Namibias deportiert, wo er aufgrund der unmenschlichen Lagerbedingungen starb.

Der Namakaptein Cornelius Fredericks als Gefangener im Konzentrationslager an der namibischen Küste abgebildet, 1906. Foto: National Archives of Namibia. 

Für den Justus-Strandes-Weg im Bezirk Hamburg-Nord schlägt unser Bündnis eine Auswahl von drei Namensgeberinnen vor, die gegen Kolonialismus und für Freiheit kämpften:

- In der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ standen im Maji-Maji-Krieg (1905-1907) mehr als 20 verschiedene Bevölkerungsgruppen gemeinsam gegen die koloniale      Unterdrückung auf. Nkomanile, die charismatische Wangoni-Führerin aus der südlichen Ruvuma-Region konnte mit der vereinenden Kraft des magischen Maji, des geweihten Wassers, die lokalen Chiefs überzeugen, in den Krieg zu ziehen. Als es der deutschen „Schutztruppe“ schließlich gelang, den landesweiten Widerstand zu brechen, wurden die zahlreichen Anführer mit dem Tod bestraft. Am 27. Februar 1906 wurden in Songea 66 Kriegsgefangene gehängt, unter ihnen als einzige Frau Nkomanile. Sie wird heute auf einer Gedenktafel in Songea gewürdigt.

- Jagodja, Zwangskonkubine des berüchtigten deutschen Kolonisators Carl Peters. Mit betrügerischen „Schutzverträgen“ hatte Peters seiner „Gesellschaft für Deutsche Kolonisation“ weite Regionen Ostafrikas erschwindelt. Seine Amtszeit im Kilimandscharogebiet war von Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung geprägt. Peters „nahm“ sich und seinen Offizieren afrikanische Frauen, so auch Jagodja. Als er vermutete, dass sie ein Verhältnis mit seinem Diener Mabruk hatte, ließ er ihn kurzerhand hinrichten. Jagodja floh, wurde festgenommen und ausgepeitscht. Als „Abschreckung“ wurde sie über dem Eingangstor der befestigten Station erhängt. Bei Petersʼ Rückkehr nach Berlin geriet der Vorfall zu einem Kolonialskandal. Der nun als „Hänge-Peters“ Beschimpfte wurde aus dem Dienst entlassen, doch später rehabilitiert. Jagodjas Schicksal ist exemplarisch für eine ganze Reihe von nachfolgenden Kolonialskandalen, bei denen hohe Kolonialbeamte sexualisierte Gewalt ausübten.

Als neue Namensgeberin für den Justus-Strandes-Weg in Hamburg wird Lucy Lameck (im Bild links mit ihrer Mitstreiterin Victoria Kopney, um 1960) vorgeschlagen. Foto: The National Archives UK@Flickr Commons.

- Lucy Lameck (1934–1993) war die erste Ministerin im unabhängigen Tansania. Sie trat der Tanganyika African National Union (TANU) bei. Nach ihrem Studienabschluss in England und den USA wurde sie in das tansanische Parlament gewählt. In ihrer über 20-jährigen Tätigkeit als Parlamentarierin und Ministerin unterstützte sie die panafrikanische Idee und initiierte maßgebliche Gesetzesvorlagen zur Verbesserung der Lage von Frauen in der tansanischen Gesellschaft. Sie ist das große Vorbild für die nachkommenden Generationen tansanischer Politikerinnen geblieben. In Hamburgs Partnerstadt Dar es Salaam wird sie mit der Lucy Lameck Road gewürdigt. In Berlin wurde im Jahr 2021 die Wissmannstraße in Lucy-Lameck-Straße umbenannt.  

Diese drei Namensvorschläge stehen nicht nur allgemein für die ostafrikanische und deutsche Verflechtungsgeschichte. Sie stellen ebenso einen direkten Bezug her zur Geschichte des Bezirks Hamburg-Nord und zu den dortigen Fabriken, die damals massenhaft Produkte aus Elfenbein und Kautschuk herstellten.

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Fußnoten

[1] Vasco-da-Gama-Platz, Marco-Polo-Terrassen, Magellan-Terrassen, Kaiserkai, so im Jahr 2010 benannt. An den Gebäudefassaden der neuen HafenCity prangen in goldenen Lettern die Namen von europäischen „Weltreisenden“, von „Kolonialwaren“ oder überseeischen Besitzungen: Humboldthaus, Vespuccihaus, Kolumbushaus, Sumatrakontor; Java und Virginia (Tabak), Arabica und Pacamara (Kaffee), Ceylon (Tee), Cinnamon (Gewürze), Silk und Linnen (Textilien), Palisander, Kambala, Limba und Meranti (Farbhölzer). 

[2] Zum Protest des Arbeitskreises Hamburg Postkolonial gegen die Benennung des Amerigo-Vespucci-Platzes im Jahr 2021, siehe Pressemitteilung. http://www.hamburg-postkolonial.de/PDF/PM_AKHamburgPostkol_Vespucci020621.pdf.

[3] Hermann von Wissmann, Reichskommissar und Kolonialgouverneur in „Deutsch-Ostafrika“; Hans Dominik, Major und Befehlshaber der „Schutztruppe“ in der Kolonie Kamerun und Heinrich Carl von Schimmelmann, im 18. Jahrhundert zentraler transatlantischer Menschenhändler und Zuckerplantagenbesitzer auf den dänisch-karibischen Inseln. Siehe Antrag des zivilgesellschaftlichen Bündnisses an die Bezirksversammlung Hamburg-Wandsbek vom 22.1.2013, aufgerufen am 22.4.2021, http://www.hamburg-postkolonial.de/PDF/AntragStrassenumbenennungenWandsbek2013.pdf. Pressemitteilung, aufgerufen am 22.4.2021, http://www.hamburg-postkolonial.de/PDF/PMStrassenumbenWandsbek2013.pdf. Siehe auch Kunstprojekt „wandsbektransformance. Die Gegenwart des Kolonialen“ zur im Jahr 2006 aufgestellten Schimmelmann-Büste in Wandsbek-Markt: http://www.wandsbektransformance.de.

[4] Zum Antrag über die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften für Alfred Graf von Waldersee und zu seiner Biografie siehe Dossier Waldersee (2012), aufgerufen am 22.4.2021, http://www.hamburg-postkolonial.de/PDF/WalderseeDossierOkt2012.pdf. Webseite der Stadt Hamburg zur Ehrenbürgerschaft Waldersees, aufgerufen am 23.4.2021, https://www.hamburg.de/ehrenbuerger/biographien/ehrenbuerger-1900-1999/4657058/graf-von-walderse.

[5] Wer war eigentlich Waldersee?, Informationsveranstaltung im Jahr 2018 zur Umbenennung der Walderseestraße in Kooperation mit der AG „Kontext Waldersee“. Veranstaltungsbericht (2018), aufgerufen am 22.4.2021, hamburg-postkolonial.de/PDF/WalderseeVABericht.pdf.

[6] Der Kolonialkaufmann Adolph Woermann baute das Handelshaus seines Vaters zur weltweit größten Privatreederei aus. Er war einflussreicher Berater Bismarcks bei der Berliner Afrika-Konferenz 1885, zudem Reichstagsabgeordneter und Präses der Handelskammer Hamburg. Er saß im Deutschen Kolonialrat, Reichskolonialamt und in 13 Aufsichtsräten von Aktiengesellschaften. Er gilt als „Begründer“ der Kolonie Kamerun, wo er große Plantagen besaß. Rücksichtslos ging er gegen Kolonisierte vor, die gegen seine Willkürherrschaft aufstanden.

[7] Justus Strandes, Kolonialkaufmann und Hamburger Senator. Er arbeitete, wie Rudolph Heinrich Ruete vor ihm, bei Hansing & Co. auf Sansibar. Er unterstützte Carl Peters’ Kolonisierungsbestrebungen in Ostafrika mit Geld und Waffen und half Hermann von Wissmann bei der Niederschlagung des antikolonialen Aufstands an der Swahili-Küste (1888-1890). Nach seiner Rückkehr nach Hamburg bekleidete er viele Ämter, u.a. im Kolonialrat, im Vorstand der Hamburger Handelskammer und der Deutschen Kolonialgesellschaft und im Aufsichtsrat der Woermann-Linien u.v.m. 

[8] Den Antrag zur Umbenennung des Woermannsweg und Woermannsstiegs haben folgende Opferverbände unterschrieben: Nama Genocide Technical Committee, Namibia Association of the Ovaherero Genocide in the United States of America (AOG)/USA, OvaHerero, Mbanderu and Nama Genocides Institute ONGI/USA und Bündnis Völkermord verjährt nicht! Beide Anträge – für die Umbenennung der o.a. zwei Woermann ehrenden Straßennamen, zudem des Justus-Strandes-Weges – werden unterstützt von: Berlin Postkolonial/Mnyaka Sururu Mboro, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland ISD-Bund, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland ISD-Hamburg, Arca – Afrikanisches Bildungszentrum, Quo Vadis, Hamburg?, Arbeitskreis Hamburg Postkolonial und Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt.