[1] Zuletzt beflügelten die Proteste gegen die rassistisch motivierte Ermordung des US-Amerikaners George Floyd weltweit Diskussionen über historische Denkmäler, die Kolonialismus verherrlichen.
© Francisco Vidal
Das Konzept des Erinnerungsorts im Kontext des Projekts ReMapping Memories Lisboa – Hamburg
Der Umgang einer Gesellschaft mit Vergangenheit spiegelt sich in verschiedenen Erscheinungsformen kultureller Erinnerung wider. Doch wie entsteht kulturelle Erinnerung und wo ist sie verortet? Welche Konzepte werden der Verhandlung von Vergangenheit in pluralistischen Gesellschaften gerecht? Und wie kann Erinnerung aus einer postkolonialen Perspektive gedacht werden?
Um der Frage nachzugehen, wie sich kollektive Erinnerungen in einer modernen Gesellschaft verdinglichen und weitergegeben werden, entwickelte der französische Historiker Pierre Nora in den 1980er und 90er Jahren die Idee des Erinnerungsortes. Im engeren Sinne bezieht sie sich auf geographische Orte wie beispielsweise Kulturerbestätten, Museen oder Denkmäler, die Nora als Träger kollektiver Gedächtnisse bezeichnet. Darüber hinaus steht für Nora der Erinnerungsort jedoch als Metapher für all das, woran sich kollektive Erinnerung orientiert und festmacht, wie zum Beispiel Traditionen, mythische Figuren, Kunstwerke, Rituale oder historische Persönlichkeiten. Diese konzeptionelle Offenheit macht sein Werk noch heute relevant und anschlussfähig. Ein zentraler Kritikpunkt an Noras Auflistung französischer Erinnerungsorte ist, dass sie die Erinnerung an Kolonialismus und Migration unbeachtet lässt. Dadurch werden eine Vielzahl von Erfahrungen vom nationalen Erinnerungsnarrativ ausgeschlossen.
Eine Debatte gewinnt an Aufmerksamkeit
Öffentliches Gedenken und die Darstellung von Vergangenheit beeinflussen nicht nur woran sich eine Gesellschaft erinnert, sondern auch wie sie ihre gegenwärtige Identität verhandelt. Dabei ist kulturelle Erinnerung keinesfalls eingrenzbar, statisch oder dauerhaft, sondern vielfältig, umstritten und in ständiger Veränderung begriffen. In pluralistischen Gesellschaften macht eine wachsende Zahl postkolonialer Initiativen auf die kolonial-rassistischen Weltbilder aufmerksam, die unter anderem durch koloniale Denkmäler und Straßennamen transportiert werden und deren Botschaften im Widerspruch zu zentralen demokratischen Grundsätzen stehen [1]. Insbesondere Schwarze und migrantisch-diasporische Aktivist*innen, Künstler*innen und Intellektuelle intervenieren in kulturellen, akademischen und politischen Räumen, um diese von kolonialer Sprache und Symbolik zu befreien. Die ehemaligen Kolonialmetropolen und Hafenstädte Hamburg und Lissabon sind dabei ganz besonders geprägt von imperialen Erinnerungsorten. Doch wo genau sind diese zu finden? Und wie gehen die von sozialer Vielfalt gekennzeichneten Städte mit ihrem schwierigen Erbe um?
Urbane Erinnerungsorte aus postkolonialer Perspektive
Um dies herauszufinden, erkundet das Projekt ReMapping Memories Lisboa –Hamburg städtische Erinnerungsorte aus einer postkolonialen Perspektive. Es untersucht, wie die kolonial-rassistischen und patriarchalen Gesinnungen des Kolonialismus dessen formales Ende überdauern konnten – zum Teil unmarkiert und unreflektiert, zum Teil in bewusst veränderter und angepasster Form. Darüber hinaus werden koloniale Deutungen durch historisch-biographische oder künstlerische Gegenerzählungen dekonstruiert. Ziel ist es, zu einer lebendigen Erinnerungskultur beizutragen, die eine Vielzahl derjenigen Perspektiven stärkt, die zuvor durch dominante Sichtweisen verdeckt oder ausgeschlossen wurden.
Um die koloniale Topographie Lissabons und Hamburgs sichtbar zu machen, werden monumentale Orte kartiert, die deutliche koloniale Bezüge aufweisen. Aber auch die kolonialgeschichtlichen Hintergründe öffentlicher Einrichtungen, Handelsunternehmen oder Bankwesen werden zurückverfolgt, beziehungsweise verortet. Zum Beispiel wird die Geschichte kolonial-rassistischer Wissensproduktion anhand botanischer Gärten, Zoos, medizinischer Institute und Universitäten skizziert, deren koloniale Verwicklungen häufig in Vergessenheit geraten sind. Zusätzlich wird der Frage nachgegangen, wie sich in den Kolonien erprobte Methoden und Praktiken der Stadtplanung und des Bevölkerungsmanagements auf Lissabon und Hamburg auswirkten.
Auch neue städtische Erinnerungsorte werden untersucht. So wurden in jüngerer Zeit sowohl in Lissabon als auch in Hamburg Stadträume konstruiert, die sich in ihrer Außendarstellung auf die Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus beziehen. Beispielsweise setzt das im Zuge der Expo' 98 geschaffene Stadtviertel Parque das Nações (Park der Nationen ) die Verklärung der nationalen Kolonialgeschichte Portugals als Geschichte der Modernisierung und des interkulturellen Austausches fort. Auch das neue Stadtviertel in Hamburg, die HafenCity , die auf dem Gelände des ehemaligen Kolonialhafens der Stadt errichtet wurde, präsentiert europäische Expansionsgeschichte und verschweigt dabei die koloniale Gewalt, in die der Ort verwickelt war.
Erinnerung an Formen des Widerstands
Kolonialismus und Versklavungshandel provozierten vielfältige Formen des organisierten Widerstands, sowohl innerhalb der Kolonien als auch in den Kolonialmetropolen. In Lissabon, einer Stadt mit jahrhundertealtem afrikanischem und afro-portugiesischem Erbe, formierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine heterogene, Pan-Afrikanische Bewegung, die jedoch in den 1930er Jahren durch das Estado Novo Regime unterdrückt wurde. Später, zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unterstützten angolanische, kapverdische und guinea-bissauische Studierende, unter ihnen auch Amílcar Cabral, von Lissabon aus den antikolonialen Befreiungskampf in ihrer Heimat. In Hamburg betrieben Schwarze kommunistische Intellektuelle seit dem Ende der 1920er Jahre das International Trade Union Committee of Negro Workers , das sich weltweit gegen Rassismus und für die Rechte Schwarzer Arbeiter*innen einsetzte. Das Komitee wurde nur wenige Jahre später durch die Nationalsozialisten zerstört.
Die Widerstandsgeschichte marginalisierter Gemeinschaften sowie ihre umfassenden kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen werden häufig aus dem kollektiven Gedächtnis postkolonialer Gesellschaften gedrängt. Dadurch drohen sie in Vergessenheit zu geraten. Die Dokumentation, Archivierung und Verbreitung ist daher ein wichtiger Schritt bei der Überwindung kolonialer Geschichtsdeutung. Dabei setzen sich besonders migrantisch-diasporisch geprägte Initiativen für entsprechende Reformen im Bereich der kulturellen Erinnerung ein. Verschiedene Beiträge dieses Projektes widmen sich denjenigen Erinnerungsorten, die die Erfahrungen und Handlungsfelder Schwarzer und afrikanischer Menschen in Lissabon und Hamburg sichtbar machen. Beispielsweise erwirkte in Lissabon die afro-portugiesische Initiative Djass kürzlich die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte und eines Informationszentrums, das an die Geschichte des Versklavungshandels erinnert. In Hamburg konfrontierte eine namibische Delegation von Nama und Herero Vertreter*innen im Jahre 2018 die Stadt mit ihrem kolonialen Erbe. Sie erwirkte eine offizielle Entschuldigung für Hamburgs Beteiligung am kolonialen Genozid, der gegen ihre Vorfahren verübt wurde.
In den Stadtbildern von Lissabon und Hamburg überlagern sich vielfältige Spuren unterschiedlicher historischer Epochen und Akteure. Anstatt beide Städte als zusammenhangslose Fallbeispiele zu betrachten, werden im Rahmen von ReMapping Memories Lisboa – Hamburg auch ihre europäischen und globalgeschichtlichen Verflechtungen in den Blick genommen. Einige Erinnerungsorte behandeln verschiedene Momente gemeinsamer Kolonial- und Widerstandsgeschichte. So werden nicht nur die Funktionsweisen kolonialer Herrschafts- und Handelsnetzwerke gezeigt, sondern auch die länderübergreifende Solidarität antikolonialer Bewegungen.
[1] Zuletzt beflügelten die Proteste gegen die rassistisch motivierte Ermordung des US-Amerikaners George Floyd weltweit Diskussionen über historische Denkmäler, die Kolonialismus verherrlichen.